Einleitung
„Siehe, Christus Jesus, Marias Sohn, ist der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und ist Geist von ihm [Gott]. So glaubt an Gott und seine Gesandten“.
Kaum ein Text bringt das komplizierte Verhältnis zwischen der christlichen und der islamischen Sicht Jesu so sehr auf den Punkt wie dieser Ausschnitt aus Sure 4. Liest man den Text bis hier, enthält er nichts, das nicht auch im Neuen Testament stehen könnte: Jesus ist der Christus, er ist der Sohn Marias, Gesandter Gottes, ja, er ist „Wort“ und „Geist“ Gottes, beinahe so, wie zu Beginn des Johannesevangeliums und in der biblischen Weihnachtsgeschichte nach Matthäus und Lukas. Islamisch wird der Text erst durch die folgenden Worte, dann aber mit Wucht und scharfer Abgrenzung: „und sagt nicht: ‚Drei!‘ Hört auf damit, es wäre für euch besser. Denn siehe, Gott ist ein Gott; fern sei es, dass er einen Sohn habe“ (Sure 4,171). Das christliche und das muslimische Jesusbild sind sich in Vielem sehr ähnlich – und sie unterscheiden sich fundamental.
1. Aus christlicher Sicht
1.1 Die biblischen Hoheitstitel Jesu
Die Frage, mit welchen Begriffen sich die Person Jesus von Nazaret angemessen erfassen lässt, wird schon im Neuen Testament, dem zweiten Teil der christlichen Bibel, ausgiebig diskutiert. An zentraler Stelle im ältesten Evangelium wird der folgende Dialog zwischen Jesus und seinem Schüler Petrus überliefert: „Auf dem Wege fragte er [Jesus] seine Jünger und sprach zu ihnen: ‚Wer, sagen die Leute, dass ich sei?‘ Sie antworteten ihm: ‚Einige sagen, du seist Johannes der Täufer; einige sagen, du seist Elia; andere, du seist einer der Propheten‘. Und er fragte sie: ‚Ihr aber, wer, sagt ihr, dass ich sei?‘ Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: ‚Du bist der Christus!‘“ (Mk 8,27–29).
„Christus“, das ist der erste und zentrale Titel Jesu. Seit langem erwartete man in Israel einen Mann Gottes, einen Gesandten, einen neuen König, einen „Gesalbten“ (griech. Christós, hebr. maschiach, dt. Messias), der das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk zurechtbringen würde. Petrus und die Anhänger:innen Jesu kamen zu der Überzeugung: Dieser Mann, ein einfacher Zimmermann aus Nazaret in Galiläa (Mk 6,3), der die Menschen heilte und lehrte (Lk 11,20), der mit dem Volk aß und trank (Mt 11,19), der die Heilige Schrift kraftvoll auslegte (Mt 5–7) und verkündete, dass das Reich Gottes mit ihm bereits angebrochen sei (Mk 1,15) – dieser Mann ist der Christus Gottes. Seit ältester Zeit ist der Christus-Titel so zentral, dass er oft wie ein zweiter Eigenname verwandt wird: Jesus Christus. Auch im christlichen Glaubensbekenntnis steht der Christus-Titel an erster Stelle: „Ich glaube … an Jesus Christus“.
Das Glaubensbekenntnis fährt fort, indem es zwei weitere Titel hinzusetzt: „[Jesus Christus,] seinen [= Gottes] eingeborenen Sohn, unseren Herrn.“ Jesus ist nach christlicher Überzeugung der „Herr“ (griech. kýrios), der Gebieter, Meister und Lehrer der Christ:innen (Röm 14,9). Gott hat ihn nach dem Tod am Kreuz (Mk 15,15-39) von den Toten auferweckt (1 Kor 15,1–8) und zu seiner Rechten erhöht (Röm 8,34). Am Ende der Tage wird er über die Lebenden und die Toten richten (2 Kor 5,10). Darüber hinaus ist Jesus der „Sohn“, näherhin Gottes „eingeborener“ Sohn (griech. monogenés, Joh 1,14). Gemeint ist: Jesus steht zu Gott in engster Beziehung. Sein Verhältnis zum Herrn der Welten ist wie das Verhältnis des rechtmäßigen, geschwisterlosen Sohnes und Alleinerben zum Vater. Er kennt ihn wie kein anderer, nicht nur aus der Entfernung, durch Informationen Dritter oder vom Hörensagen. Jesus kann zuverlässig und in jeder Hinsicht Auskunft darüber geben, wer Gott ist. Im Gebet nennt er ihn „Vater“, und die Christen tun es ihm nach (Mt 6,9).
Schon im Alten Testament, dem ersten Teil der christlichen Bibel, wird der Titel „Sohn Gottes“ als eine Metapher engster Beziehung verwendet. Berühmt sind die Worte des zweiten Psalms, in dem der König ein Wort Gottes zitiert: „Er hat zu mir gesagt: ‚Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt‘“ (Ps 2,7). Gott „zeugt“ seinen „Sohn“, indem er den König in sein Amt einsetzt. Man sieht sofort: Es geht nicht um Zeugung in einem wie auch immer gearteten physischen Sinn, sondern der Begriff wird im übertragenen, metaphorischen Sinn verwendet. Der König wird von Gott adoptiert. Vom Moment seiner Thronbesteigung an soll er in seiner Funktion als König „Sohn Gottes“ sein und heißen. Er steht von nun an in der engsten denkbaren Beziehung zu Gott.
Im Neuen Testament werden die berühmten Worte des Psalms an vielen Stellen direkt auf Jesus bezogen. Das älteste Evangelium berichtet davon, dass eine Stimme vom Himmel erklungen sei, als Jesus von Johannes im Jordan getauft wurde: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“ (Mk 1,11). Das heißt: In diesem Moment „zeugt“ Gott seinen „Sohn“. Von nun an soll Jesus „Sohn Gottes“ sein und heißen. Über die Frage, seit wann Jesus „Sohn Gottes“ ist und als solcher benannt werden kann, besteht im ältesten Christentum keine Einigkeit. Schon im Neuen Testament gibt es neben dem Modell einer „Zeugung“ bzw. Adoption bei der Taufe noch zwei andere Modelle. So schreibt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinden in Rom, er selbst sei „ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, das er [= Gott] zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist, der heiligt, eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten“ (Röm 1,1–4). Nach diesem Text, dem wahrscheinlich uralte christliche Tradition zugrunde liegt, ist Jesus durch die Auferstehung von den Toten „Sohn Gottes“ geworden (vgl. Apg 13,32–33). Für andere, spätere Texte ist bereits die physische Zeugung Jesu ein göttliches Wunder, das ihn zum „Sohn Gottes“ macht. So berichten die neutestamentlichen Geburtsgeschichten davon, dass Maria als Jungfrau vom Heiligen Geist schwanger wurde (Mt 1,18.20). Lk 1,35 sagt der Engel zu Maria: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“
Legt man die Texte nebeneinander, wird deutlich, dass mit folgender Entwicklung zu rechnen sein wird: In ältester Zeit bekannten Christ:innen, dass Gott den Menschen Jesus von Nazaret durch die Auferweckung von den Toten und die Erhöhung zu seiner Rechten als „Sohn Gottes“ eingesetzt hatte (vgl. Ps 110). Als um das Jahr 70 herum das erste „Evangelium“ geschrieben wurde, in dem ausführlich vom Leben Jesu berichtet wurde (Mk 1,1), datierte sein Verfasser die Einsetzung in die himmlische Herrschafts- und Ehrenposition zurück auf das Datum der Taufe Jesu durch Johannes, das heißt auf den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu. Als das Lukas- und das Matthäusevangelium später die Erzählung vom Leben Jesu durch Geburtsgeschichten ergänzten, datierten sie die Einsetzung nochmals zurück auf den Zeitpunkt der Geburt Jesu durch die Jungfrau, wie der Prophet Jesaja sie nach der griechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments vorhergesagt hatte (Jes 7,14).
Die späteren Evangelien schließen damit ein mögliches Missverständnis aus: Es ist nicht etwa so, dass Gott Jesus als Sohn adoptiert hätte, weil dieser sich in besonderer Weise hervorgetan hätte – etwa so, wie berühmte Männer gelegentlich Heranwachsende adoptieren, denen sie für die Zukunft viel zutrauen. Sondern Jesus ist von allem Anfang an „Sohn Gottes“, man kann sein Leben nicht erzählen, ohne zugleich von Gott zu sprechen, und dies vom Tag seiner Geburt an. Ihre äußerste Zuspitzung findet diese Überzeugung in dem Bekenntnis, dass die göttliche Weisheit selbst im Sohn zur Welt gekommen ist, das göttliche „Wort“ (griech. lógos), mit dem Gott einst die Welt erschaffen hatte: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott […]. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater“ (Joh 1,1.14).
1.2 Jesus als die Antwort auf die Frage, wer Gott ist
So unterschiedlich die Perspektiven der neutestamentlichen Texte sind, so vielgestaltig entwickelten sich die christlichen Lehren über den Sohn Gottes. Einige betonen die Menschheit Jesu, andere die Göttlichkeit. Einige legen größten Wert auf die Zeugung durch den Heiligen Geist und die Geburt aus der Jungfrau, andere halten die Jungfrauengeburt für eine späte, durch die altorientalischen und griechischen Berichte über „Göttersöhne“ inspirierte Legende. Für einige ist Maria ohne Wenn und Aber „Gottesgebärerin“ (griech. theotókos), für andere ist Jesu „Zeugung“ allein in dem Sinn übernatürlich, dass „Gott in ihm war in dem höchsten Sinne, in welchem überall Gott in Einem sein kann“ (Schleiermacher, Glaube, 29). Bis heute ringt die christliche Theologie mit der Frage, wie das Verhältnis von menschlicher und göttlicher „Natur“ Jesu im Einzelnen zu bestimmen ist.
Einig sind sich die neutestamentlichen und alle späteren christlichen Texte indes in der Hauptfrage, die auch im christlich-islamischen Gespräch im Zentrum steht: Gleich wie man das Verhältnis von Gott und Jesus konkret bestimmen mag, gleich welchen Ehrentitel man bevorzugen mag – fest steht für Christen, dass Jesus und seine Geschichte der Weg zur Erkenntnis Gottes sind. „Das war die Gemeinsamkeit, die die Vielfalt […] der neutestamentlichen Schriften einte: Die Geschichte dieses Menschen als die Geschichte Gottes, der sich in ihr zu erkennen gab“ (Reinmuth, Hermeneutik, 2002, 16). Diese christliche Überzeugung markiert zugleich die wesentliche Differenz zwischen Christentum und Islam. Für einen Muslim ist Jesus ein Gesandter Gottes und Prophet in einer langen Reihe von Propheten und Gesandten (Sure 2,136 u. a.). Für die Christ:innen ist die „Jesus-Christus-Geschichte“, wie Eckart Reinmuth sie genannt hat, der eine Weg zur Antwort auf die Frage, wer Gott ist und was Gott den Menschen zu sagen hat.
2. Jesus in islamischer Sicht
2.1 Jesus als Gesandter und Diener Gottes
Der Islam sieht in Jesus einen der großen Gesandten und Auserwählten, einen aufrichtigen und wahrhaftigen Diener Gottes. Gesandte und Propheten spielen eine bedeutende Rolle in der islamischen Tradition. Sie gelten als gläubige und rechtschaffene Menschen, die vorbildlich gelebt haben. Gott hat sie auserwählt, ihnen seine Botschaft anvertraut und sie beauftragt, diese Botschaft an die Menschheit zu übermitteln. Im Koran gibt es zwei Begriffe, für die im Allgemeinen in den deutschen Übersetzungen der Begriff „Prophet“ verwendet wird: nabī und rasūl. Ein rasūl ist ein Auserwählter, der einen regionalen und temporären Auftrag hatte und von dem keine schriftliche Offenbarung bekannt ist. Ein nabī – der Begriff ist auch in der hebräischen Bibel bekannt – ist ein Bringer froher Botschaft, der einen universellen Auftrag hatte und dessen Botschaft zeitgleich oder später schriftlich festgehalten wurde. Der Koran nennt unter anderem David, Abraham, Mose, Jesus und Muhammad nabī. Demnach gilt die Botschaft Jesu als überzeitlich: „In ihren [der Auserwählten] Spuren ließen Wir Jesus folgen, Marias Sohn; Ihm gaben Wir das Evangelium. Darin ist Rechtleitung und Licht, und es bestätigt, was vor ihm von der Tora bestand, und es ist Rechtleitung und Mahnung für diejenigen, die sich vor Gott in Acht nehmen“ (Sure 5,46).
Jesus steht in einer langen Reihe von Gesandten, die eine Urbotschaft Gottes verkündeten: „Sprich: ‚Wir glauben an Gott und was auf uns herabgesandt ward und was auf Abraham und Ismael, auf Isaak und Jakob und auf die Stämme herabgesandt ward und was überbracht ward den Propheten von ihrem Schöpfer und Erhalter. Wir machen zwischen keinem von ihnen einen Unterschied. Wir sind Ihm [Gott] ergeben‘“ (Sure 2,136). Die wesentlichen Elemente der Botschaft aller Gesandten sind die Hingabe zu dem einen Gott, die Verantwortung für die Schöpfung und die Sorge für und Solidarität mit den Menschen, vor allem mit denjenigen, die in Not sind.
2.2 Jesus, Sohn der Maria
Die Geschichte Jesu ist im Koran stark mit Maria verbunden, die als auserwählte und rechtschaffene Frau bezeichnet wird. Als einzige Frau wird sie im Koran mit ihrem Namen erwähnt. Die 19. Sure, in der die ungewöhnliche Geburt Jesu thematisiert wird, ist nach ihr benannt. Wenn im Koran der Name Jesu erwähnt wird, geschieht dies oft mit dem Zusatz „Sohn Marias“. Die Empfängnis geschah laut Koran durch eine Verkündigung, die ein Engel Maria überbrachte: „Damals, als die Engel sprachen: ‚Maria! Siehe, Gott verkündet dir ein Wort von sich. Sein Name sei Christus Jesus, Sohn der Maria. Er soll im Diesseits und im Jenseits angesehen sein und einer von den [Gott] Nahestehenden‘“ (Sure 3,45). Auf Marias Frage, wie dies möglich sei, obwohl „sie von keinem menschlichen Wesen berührt war“ (Sure 3,47), lautet die Antwort, dies sei für Gott keine unmögliche Sache: wenn Gott etwas beschließt, braucht er nur zu sagen „sei“, und es wird (vgl. Sure 19,21).
Nach der Geburt Jesu bekommt Maria die Anweisung, zu schweigen. Wenn das Volk ihr kritische und spöttische Fragen stellt, soll sie auf Jesus in der Wiege zeigen. Nach islamischer Auffassung wird die erste Wundertat Jesu in der Wiege vollbracht, als er selbst seine Botschaft bezeugt und seine Mutter von Schuldzusprüchen freispricht: Jesus sprach: „‚Ich bin der Diener Gottes! Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten. Er [Gott] verlieh mir Segen, wo immer ich auch bin, und machte mir zum Gebot, das Gebet zu verrichten und die Pflichtabgabe zu entrichten, solange ich am Leben bin. Und Ehrerbietung gegen meine Mutter. […] Und Friede über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, an dem ich sterben werde und an dem Tag, an dem ich zum Leben auferweckt werde.‘ Das ist Jesus, Sohn Marias, als Wort der Wahrheit, über das sie uneins sind“ (Sure 19,34).
Jesus wird im Koran „Wort Gottes“ genannt, weil er durch das Wort „sei!“, das an Maria gerichtet war, entstanden ist. In der koranischen Erzählung fällt auf, dass der Begriff „heiliger Geist“ nur im Zusammenhang mit Jesus verwendet wird. Die muslimischen Kommentare interpretieren den „heiligen Geist“ allerdings als den Engel Gabriel, der allen Propheten die Botschaft Gottes vermittelte. Der Koran betont, dass die Wundertaten Jesu nur mit Ermächtigung Gottes möglich waren: Jesus wurde von Gott ermächtigt, die Kranken, Blinden und Aussätzigen zu heilen und die Toten zum Leben zu erwecken, auf dass die Menschen an ihn glauben und seinen Weg beschreiten (Sure 3,48–49). Die Gebote der Tora bestätigt Jesus teilweise, teilweise hebt er sie auf: „Ich [Jesus] kam zu euch, um zu bestätigen, was vor mir war von der Tora, und um euch manches von dem zu erlauben, was euch verboten war. Ich kam zu euch mit einem Zeichen von eurem Schöpfer und Erhalter. So habt Ehrfurcht vor Gott und leistet mir Gehorsam!“ (Sure 3,50–51).
2.3 Kritik am christlichen Bekenntnis
Jesus wird in der islamischen Tradition hoch geschätzt und geehrt. Allerdings richtet sich der Koran an mehreren Stellen kritisch an die Christ:innen und wirft ihnen vor, eine Christologie entwickelt zu haben, die nicht von Jesus selbst stammt. Im Zusammenhang mit der Gottessohnschaft Jesu wird die Vorstellung angeprangert, die die Trinität im Sinne von drei Göttern verstanden hat. Diese Vorstellung konnte seitens des Islam, der für den strengen Monotheismus steht, nicht unwidersprochen bleiben. Diese Kritik kann nur im Kontext der Entstehungszeit des Textes verstanden werden. Die Adressaten sind zuerst die Christ:innen, die im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel gelebt haben und mit denen die Muslim:innen in Kontakt waren. So war etwa der alexandrinische christliche Philosoph Johannes Philoponos (gest. um 575) ein „Verfechter des Tritheismus [= DreiGott-Glaubens, H.M.] in der Alten Kirche. Ihm galt die ‚Einheit Gottes‘ im Sinne der üblichen Trinitätslehren als bloßer Begriff, als reine Abstraktion des menschlichen Verstandes. Seiner Ansicht nach handelte es sich bei Gott faktisch um eine Götter-Dreiheit. Es heißt in seiner Schrift ‚Über die Trinität‘: ‚So ist einer Gott Vater, einer Gott Sohn und einer Gott Heiliger Geist‘“ (Bauschke, Sohn, 2013, 102).
Um den kritischen Vers 171 in der eingangs bereits zitierten Sure 4 zu verstehen, muss diese Situation der Offenbarungszeit in Betracht gezogen werden, um die Kritik nicht auf alle Christ:innen auszuweiten: „Ihr Buchbesitzer! Geht nicht zu weit in eurer Religion, und sagt nur die Wahrheit über Gott! Siehe, Christus Jesus, Marias Sohn, ist der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und ist Geist von ihm [Gott]. So glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: ‚Drei!‘ Hört auf damit, es wäre für euch besser. Denn siehe, Gott ist ein Gott; fern sei es, dass er einen Sohn habe. Sein ist, was in den Himmeln und auf Erden ist. Gott genügt als Anwalt.“
Der zweite Streitpunkt ist die Kreuzigung Jesu. Sie wird ebenfalls in Sure 4 thematisiert: „Und weil sie Leugner waren und Maria ungeheuerlich verleumdeten und weil sie sprachen: ‚Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet!‘ Aber sie haben ihn nicht getötet und haben ihn auch nicht gekreuzigt. Sondern es kam ihnen nur so vor. Siehe, jene, die darüber uneins sind, sind wahrlich über ihn im Zweifel. Kein Wissen haben sie darüber, nur der Vermutung folgen sie. Sie haben ihn nicht getötet, mit Gewissheit nicht, vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig, weise“ (4,156–158). Der Koran geht nicht auf die Einzelheiten ein, und doch wird dieser Vers von der Mehrheit der Muslim:innen als Verneinung der Kreuzigung Jesu gedeutet, die teilweise instrumentalisiert wurde als Begründung für Abneigung gegen die Jüd:innen und Christ:innen. Es herrscht die Meinung, dass es nicht Jesus war, der am Kreuz starb, sondern jemand, der ihm ähnlich war. Diese Deutung ist in die Lehre eingebettet, die davon ausgeht, dass Gott seinen Auserwählten keinen Tod in Erniedrigung und Schmähung zulässt.
Darüber hinaus ist der Gedanke der Erlösung durch die Kreuzigung Jesu dem Islam fremd. Die Menschen sind individuell für ihre Handeln verantwortlich. Nach islamischer Auffassung gibt es keine „Erbsünde“, jeder Mensch wird rein und frei erschaffen, und jeder trägt die Verantwortung für sein Tun und Unterlassen im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten. Jesus bleibt jedoch für die Muslim:innen der Auserwählte Gottes, ein Vorbild und ein Wegweiser, wie ein Leben entsprechend göttlichen Normen und Anordnungen zu leben ist. Sein Name wird – wie auch bei allen anderen Propheten – mit einem Segensgruß ausgesprochen. Die islamische Tradition sieht vor, dass allen Auserwählten und Propheten besondere Ehrerbietung und Respekt entgegen gebracht werden soll, und dies wird im Gruß „Friede sei mit ihm und seinen Nachkommen“ ausgedrückt. In der islamischen Mystik haben die Heiligen, Lehrer und Meister eine große Bedeutung. Jesus gilt in dieser Tradition als Vorbild in Reinheit und Güte. In der Dichtung der Mystiker wie Attar wird er als Freund und Geliebter bezeichnet.
3. Fazit und Ausblick
Das christliche und das islamische Jesusbild sind sich sehr ähnlich – und sie sind unvereinbar. Es ist wichtig, die Gemeinsamkeiten zu betonen, zumal in einer Situation, in der viele um die Gemeinsamkeiten nicht wissen. Am Ende stehen indes fundamentale, religionstrennende Differenzen, zu denen Christ:innen und Muslim:innen auch zukünftig nicht mehr sagen können werden als: we agree to disagree. Für das künftige Gespräch über das Jesusbild scheinen uns drei Punkte besonders wichtig zu sein:
- Christ:innen und Muslim:innen sollten sich darum bemühen, Zerrbilder zu vermeiden und die Differenzen recht zu verstehen, das heißt so, dass ihre Beschreibung nicht nur dem eigenen, sondern auch dem Selbstverständnis der anderen Religionsgemeinschaft gerecht wird. Muslim:innen fühlen sich missverstanden, wenn behauptet wird, der von ihnen verkündete Gott sei ein anderer als der, von dem Jesus gesprochen hat. Christ:innen fühlen sich missverstanden, wenn behauptet wird, sie beteten in Wahrheit drei Götter an. Können Christ:innen und Muslim:innen akzeptieren, dass die jeweils andere Seite gute Gründe für ihre Position hat?
- Christ:innen und Muslim:innen sollten sich darum bemühen, die eigene Tradition kritisch in den Blick zu nehmen. Für die christliche Tradition stand fest, dass Muslim:innen christliche Ketzer sind. Für die muslimische Tradition stand fest, dass Jesus nicht am Kreuz gestorben ist, sondern von Gott in den Himmel erhoben wurde, während ein anderer an seiner Stelle starb. Sind Christ:innen und Muslim:innen bereit, diese Fragen auf der Grundlage von Bibel und Koran noch einmal neu zu diskutieren?
- Jesus von Nazaret hat gelehrt, dass das wichtigste Gebot die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist. Dieses Gebot ist nicht nur das Zentrum der christlichen Lehre, sondern auch Grundlage der islamischen Lehre. Darin liegt eine große Chance für eine zukünftige Annäherung und Verständigung zwischen Christ:innen und Muslim:innen.
Zum Weiterlesen
Bauschke, Martin, Der Sohn Marias. Jesus im Koran, Darmstadt 2013
Böttrich, Christfried/Ego, Beate Ego/Eißler, Friedmann, Jesus und Maria in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2009
Klausnitzer, Wolfgang, Jesus von Nazaret. Lehrer – Messias – Gottessohn, Mainz 2001
Schimmel, Annemarie, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, München 1996
Khorchide, Mouhanad/von Stosch, Klaus, Der andere Prophet – Jesus im Koran, Freiburg im Breisgau 2018
Tatari, Muna/von Stosch, Klaus, Prophetin, Jungfrau, Mutter – Maria im Koran, Freiburg im Breisgau 2021