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Ursprung und Ziel: Gott als Schöpfer und Richter

Dirk Ansorge, Hamideh Mohagheghi
Die Menschen haben sich unaufhörlich über den Sinn des Lebens Gedanken gemacht und Fragen gestellt. Sie haben sich bemüht, zwischen Ursprung und Ziel den Zweck des Daseins zu verstehen. Zu diesen Fragen haben Christentum und Islam sich mehrfach und facettenreich positioniert. In beiden Religionen steht der Mensch durch Gottes Gnade und Zuwendung in einer Beziehung und Vertrautheit mit Gott, die er in Freiheit individuell entfalten oder ignorieren kann. Der Glaube an Gott führt zur Einsicht, dass der Mensch für diese Welt und sein eigenes Leben Verantwortung trägt, der er durch den Glauben und darauf basierender Handlungsweise gerecht werden kann. Einige Aspekte dieser großen Fragen der Menschheit werden in diesem Beitrag thematisiert.
Veröffentlicht im Mai 2014
Aktualisiert im März 2023
Zitierlink: https://handbuch-cid.de/ursprung-und-ziel-gott-als-schoepfer-und-richter

Einleitung

„Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten Bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ (Nostra Aetate 1).

Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen beantworten solche Fragen mit dem Hinweis auf Gottes Allmacht und seine Güte: in seiner unendlichen Machtfülle hat Gott „Himmel und Erde“ aus dem Nichts erschaffen. Er bewahrt die Welt in jedem Augenblick davor, in das Nichtsein zu versinken. Und er wird die Welt am Ende der Zeiten zur Vollendung führen. Dann, so glauben Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen übereinstimmend, werden die Menschen für ihr Tun wie für ihr Unterlassen von Gott zur Rechenschaft gezogen. Auf welche Weise dies geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Schöpfung und Gericht erscheinen jedenfalls als die beiden Pole, zwischen denen sich die Geschichte der Welt und der Menschen ausspannt.

Der Mensch ist bemüht, zwischen Ursprung und Ziel den Sinn seines eigenen Daseins zu verstehen. Durch Gnade und Zuwendung Gottes steht er in einer Beziehung und Vertrautheit mit Gott, die er frei entfalten oder ignorieren kann. Der Glaube an Gott führt zur Einsicht, dass der Mensch für diese Welt und sein Leben Verantwortung trägt, der er durch den Glauben gerecht werden kann.

1. Gott als Schöpfer und Richter aus christlicher Sicht

Auf der Grundlage der biblischen Überlieferung glauben Christ:innen an Gott, „den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ (Apostolisches Glaubensbekenntnis). Nach christlicher Auffassung gründet die Existenz der Welt im trinitarischen Wesen des einen und einzigen Gottes: weil Gott als Vater, Sohn und Geist bereits in sich selbst Beziehung ist, bedarf er keines anderen außerhalb seiner selbst, um in eine Beziehung treten zu können. Die Erschaffung der Welt ist deshalb nicht notwendig, will Gott in Beziehung treten. Schöpfung ist vielmehr freie schöpferische Tat, deren „Vorbild“ die gleichursprüngliche Einheit und Unterschiedenheit in Gott selbst ist.

Die Erschaffung der Welt verbinden Christ:innen mit dem göttlichen „Wort“ (Logos). In seinem ewigen Wort spricht sich Gott so sehr als er selbst aus, dass das Wort selbst Gott ist. Um diese Beziehung zu veranschaulichen, gebraucht das Glaubensbekenntnis ein Bild: das göttliche Wort ist „Licht vom Licht“. Nach christlicher Auffassung ist es von Ewigkeit her bei der Erschaffung der Welt beteiligt: „Und Gott sprach: …“ (Gen 1). Diese Deutung war durch hellenistisch-jüdisches Denken vorbereitet worden. Dem jüdischen Gelehrten Philo von Alexandria (gest. ca. 40 n.Chr.) zufolge etwa existierte die (weibliche) Weisheit (vgl. Spr 8,22–31) als eine eigenständige Wirklichkeit („Hypostase“) in Gott. In schöpferischer Einheit mit dem (männlichen) Logos (vgl. Weish 9,1f) geht aus beiden die raumzeitliche Welt hervor.

Erstaunlich früh haben Christ:innen die beiden göttlichen Hypostasen „Weisheit“ und „Logos“ mit Christus identifiziert. Dass Gott die Welt durch sein schöpferisches Wort geschaffen hat, verstanden Christ:innen so, dass mit diesem Wort der ewige Logos gemeint ist, der in Jesus von Nazaret Mensch geworden ist (vgl. Joh 1,1–3.10). Und umgekehrt: Jesus ist nicht nur der Mensch gewordene Logos, sondern als solcher zugleich auch Schöpfungsmittler. Texte wie Röm 11,36 („Aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles“; vgl. 1 Kor 8,6; Kol 1,16; Hebr 1,2f; 11,3) zählen zu den ältesten Überlieferungen im Neuen Testament.

Die christologischen Hymnen im Epheserbrief (1,3–10) und im Kolosserbrief (1,15–20) preisen Christus nicht nur als den Ursprung der Schöpfung, sondern auch als deren Vollender. Auf diese Weise schließt sich ein Bogen, der vom Ursprung der Schöpfung bis zu deren Ziel gespannt ist. Denn Christ:innen sind der Überzeugung, dass der Mensch gewordene Logos nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt wieder bei Gott ist (vgl. Röm 8,34; Kol 3,1 u.ö.). Von dort aber „wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“ – so das christliche Glaubensbekenntnis. In der Zwischenzeit ist Gott in seinem Heiligen Geist in der Geschichte gegenwärtig und wirksam. Die durch den Heiligen Geist versammelten Gläubigen konstituieren die Kirche als eine Gemeinschaft von Menschen, die in der Nachfolge Christi dessen Wiederkunft zum Gericht und die endgültige Verwirklichung der Herrschaft Gottes erwarten.

1.1 Schöpfung aus christlicher Sicht

Das Bekenntnis zur Schöpfungsmittlerschaft des göttlichen Logos steht ebenso wenig am Anfang der neutestamentlichen Bekenntnisbildung, wie der Schöpfungsglaube am Anfang des biblischen Zeugnisses von Gott steht. Am Anfang der Religion Israels steht vielmehr die Erinnerung daran, dass Gott das bedrängte Volk aus der Sklaverei befreit hat (vgl. Dtn 26,5–9 u.a.). Erst im Babylonischen Exil, d.h. ein halbes Jahrtausend nach den als „Exodus“ und „Landgabe“ erinnerten Ereignissen, betont das Volk Israel angesichts der zahlreichen im Zweistromland verehrten Götter, dass jener Gott, der es aus Ägypten befreit hat, nicht nur der einzige Gott ist, sondern dass er auch der Schöpfer der Welt ist (vgl. Gen 1,1–2,4a; 2,4b–3,24). Und erst jetzt entstehen jene schöpfungstheologischen Texte, die im zweiten Teil des Jesaja-Buches (Jes 40–55) zusammengefasst sind, sowie wichtige „Schöpfungspsalmen“, welche die Schönheit der Welt als Gottes Schöpfung preisen (vgl. bes. Ps 19; 33; 104; 148).

Dass „sich von der Größe und Schönheit der Geschöpfe auf ihren Schöpfer schließen lässt“ (Weish 13,5), findet seinen neutestamentlichen Widerhall in der Feststellung des Apostels Paulus, dass „seit Erschaffung der Welt Gottes unsichtbare Wirklichkeit, seine ewige Macht und Gottheit, an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen wird“ (Röm 1,20). Doch auch im Christentum ist dieser Gedanke lediglich die schöpfungstheologische Entfaltung des Glaubens, dass der Gott Israels in Jesus von Nazaret Mensch geworden und zum Heil aller Menschen gestorben ist, dass der Gekreuzigte aber von den Toten auferweckt wurde und dereinst wiederkehren wird, um über die Menschen zu richten und die Welt zu vollenden. In der Perspektive beider Testamente ist der Glaube an Gottes Schöpfermacht nicht Fundament, sondern Entfaltung jener ursprünglicheren Erfahrung, dass Gott die Menschen aus Unterdrückung und Sünde, Leid und Tod befreit. Entsprechend ist der Gedanke einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts durch den Glauben an jenen Gott vorbereitet, „der die Toten lebendig macht und was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17).

Die biblischen Texte, die von der Erschaffung des Himmels und der Erde, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen erzählen, aber auch vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies, bieten keine naturwissenschaftlichen Weltentstehungs-Theorien im Sinne neuzeitlicher Wissenschaft. Die Schöpfungserzählungen suchen vielmehr eine Erklärung für die Sünde, das Leid und den Tod, die das menschliche Leben vielfach einengen, aber doch durch Gottes Vorsorge und Fürsorge umgriffen sind. Dabei werden unterschiedliche Akzente gesetzt: die sog. „priesterliche Urgeschichte“ (Gen 1,1–9,29) betont die raumzeitliche Ordnung der Welt. In deren Mitte ist der Mensch als „Bild Gottes“ (Gen 1,27) eingesetzt. Nach Psalm 8,6 ist er „nur wenig geringer gemacht als Gott“. Als dessen Stellvertreter soll der Mensch verantwortungsvoll in der Welt wirken. Die sog. „nichtpriesterliche Urgeschichte“ (Gen 2,4b–8,22) legt den Akzent auf die Erschaffung des Menschen, der mit Erkenntnisfähigkeit und Freiheit ausgestattet ist, diese aber zu seinem eigenen Schaden missbraucht. In allen diesen Geschichten geht es nicht zunächst um historische Ereignisse, sondern um grundlegende Wahrheiten menschlicher Existenz unter dem Anspruch Gottes.

Für das Volk Israels konkretisiert sich der Auftrag zur verantwortungsvollen Weltgestaltung in der Beobachtung der Tora. Die im „Zehnwort“ (Dekalog) gebotene allwöchentliche Feier des Sabbats (vgl. Ex 20,8; Lev 19,30) erinnert Israel rituell an Gottes Schöpfungswirken und an sein Ruhen am 7. Tag (Gen 2,2f). Die souveräne Herrschaft Gottes über die Welt wird auch in zahlreichen Gleichnissen deutlich, derer sich Jesus bedient, um seine Botschaft von der herannahenden Gottesherrschaft zu veranschaulichen. Das Aufkeimen und Wachsen der Saat oder des Senfkorns (vgl. Mk 4,26–32), die absichtslose Schönheit der Lilien auf dem Felde (Mt 6,25–34; Lk 12,22–32) – alles ist Zeichen der fürsorglichen Nähe Gottes in seiner Schöpfung. Für Jesus verbindet sich diese Nähe mit der beginnenden Gottesherrschaft. In diesem Sinne deuten die Evangelien die Wunder Jesu als Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfungsordnung (vgl. Mk 7,37). Beim Abschiedsmahl Jesu werden Brot und Wein als gute Gaben der Schöpfung und zugleich als Früchte der menschlichen Arbeit zu Zeichen der nahen Gottesherrschaft, in der Sünde, Krankheit, Leid und Tod endgültig überwunden sind (vgl. Mk 14,25). Folgerichtig erwarten Christ:innen mit der vollendeten Gottesherrschaft denn auch einen „neuen Himmel und eine neue Erde“ (Offb 21,1; vgl. 2 Petr 3,13; Jes 65,17).

Mit der beginnenden Gottesherrschaft verbindet sich nicht einfach die Rückkehr zu einem uranfänglichen Zustand. Die Geschichte öffnet sich vielmehr auf eine Zukunft hin, in der der „gute“ Anfang noch einmal überboten ist. Deshalb ist der christliche Glaube durch eine gewisse Distanznahme zur Schöpfungswirklichkeit gekennzeichnet. Dies zeigt sich bereits in den Nachfolgerufen Jesu, welche die künftigen Jünger nicht nur aus ihrem jeweiligen Lebensumfeld herausrufen, sondern auch die familiären Bindungen relativieren (vgl. Mk 3,34; 10,29f par.).

Deutlicher noch akzentuiert der Apostel Paulus die Vorläufigkeit der Schöpfung (vgl. 1 Kor 7,29-31). Mit der erwarteten Wiederkunft Christi verknüpft Paulus die Erlösung der ganzen Schöpfung. Diese ist zwar zur „Freiheit der Kinder Gottes“ berufen, „seufzt“ aber jetzt noch und „liegt in Geburtswehen“ (vgl. Röm 8,19–23). Tatsächlich gibt es in der Welt ja nicht nur Harmonie und Schönheit, sondern auch Krankheit und Leid, Sünde, Schuld und Tod. Alles dies aber sieht Paulus durch Christus überwunden (vgl. Röm 8,35–39). Zu der „neuen Schöpfung“ gehören deshalb nach Paulus alle Menschen, die durch Glaube und Taufe Anteil an Jesus Christus haben (vgl. Gal 6,15; 2 Kor 4,6; 5,17).

Kennzeichnend für die Geschichte des Christentums bleibt die Spannung zwischen Schöpfungsbejahung und gleichzeitiger Distanz zur Welt. Gegen weltflüchtige Tendenzen betonen Theolog:innen und kirchliche Autoritäten unablässig, dass die von Gott geschaffene und im Sein gehaltene Welt gut ist. Deshalb stammt auch das Böse in der Welt nicht von Gott; es wird vielmehr als Folge menschlicher Freiheit gedeutet: indem sich der Mensch willentlich von seinem Schöpfer abgewendet hat, traten Leid und Tod in die Welt (vgl. Röm 5,12). Heute sehen sich Christ:innen weniger dazu herausgefordert, die Güte der Schöpfung zu verteidigen, als vielmehr dazu, die Verantwortung des Menschen angesichts der ihm anvertrauten Schöpfung in Erinnerung zu rufen. Die globale Ausbeutung der Rohstoffe, der Klimawandel und seine sozioökonomischen Folgen, der Zugriff der Reproduktionsmedizin auf das menschliche Erbgut sind nur einige Fragen, zu denen Christ:innen gemeinsam mit Vertreter:innen anderer Religionen ethische Prinzipien in Erinnerung rufen, die im gemeinsamen Glauben an Gott den Schöpfer wurzeln. Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie stellen für die Mehrheit der Christ:innen keinen Widerspruch dar. Christ:innen widersprechen jedoch entschieden naturalistischen Menschenbildern, denen zufolge Bewusstsein, Geist und Freiheit des Menschen – und damit letztlich auch die Religionen – lediglich Epiphänomene einer ganz und gar materialistisch aufgefassten Evolution darstellen.

1.2 Gericht aus christlicher Sicht

Angesichts der Endlichkeit der Welt erhebt sich die Frage, wie Schuld und Sünde, Leiden und Tod in den Horizont der von Gott verheißenen Vollendung der Schöpfung zu integrieren sind. Unleugbar gibt es in der Welt unerklärliches, ja sinnloses Leiden, das sich jeder – gerade auch religiösen – Erklärung entzieht (▸ Gerecht und barmherzig? Glauben an Gott angesichts des Leids). Gleiches gilt für die Abgründigkeit menschlicher Bosheit und Schuld. Mehr noch als die Vorstellung, dass Gott am Ende der Zeiten darüber urteilt, in welchem Maße die Menschen seinen Geboten entsprechend gelebt und gehandelt haben, lassen die Erfahrungen des Leidens und des Bösen in der Welt nach einer machtvollen Instanz fragen, die imstande ist, am Ende der Geschichte „alle Tränen abzuwischen“ und alles Leid, ja selbst den Tod zu überwinden (vgl. Jes 25,8; Offb 7,17; 21,4). Eben diese keineswegs Furcht erregende, sondern vielmehr tröstliche Perspektive kennzeichnet die christliche Rede vom „Jüngsten Gericht“.

Am Anfang der biblischen Erwartung eines Gerichts am Ende der Zeiten steht die Beobachtung, dass Menschen in ihrem Denken, Reden und Handeln dem Willen Gottes zuwiderhandeln. Der theologische Gedanke, dass dies für sie nicht folgenlos bleibt, weil Gott den Zusammenhang von Tun und Ergehen in Kraft setzt und deshalb das böse Tun der Menschen ein böses Geschick zur Folge hat, zerbricht oft an der alltäglichen Erfahrung, dass es dem Bösen gut und dem Gerechten übel ergeht. Besonders die Propheten, aber auch zahlreiche Psalmen beklagen die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit in der politischen und sozialen Realität Israels. Ihre Schlussfolgerung: nicht Menschen können für die Gerechtigkeit einstehen, sondern allein Gott. Allerdings wecken innergeschichtliche Katastrophen – darunter besonders die Zerstörung des Jerusalemer Tempels – den Zweifel daran, ob Gottes Gerechtigkeit tatsächlich bereits in Zeit und Geschichte wirksam wird. So wandelt sich in der Geschichte Israels die Annahme einer unmittelbar ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes zur Erwartung eines kommenden „Tags Jahwes“. Mit ihm verbindet sich ein die Gerechten rettendes und die Übeltäter strafendes Eingreifen Gottes in die Geschichte.

Propheten wie Joël zufolge kann sich der „Tag Jahwes“ mit einem Gericht über das Volk Israel oder auch über alle Völker verbinden. Im Buch Daniel, das bereits der frühjüdischen Apokalyptik zugerechnet wird, erscheint der göttliche Richter in der Gestalt des „Hochbetagten“. Die in diesem Zusammenhang erwähnte Gestalt des „Menschensohnes“ verselbständigt sich in der frühjüdischen Apokalyptik zu einer eigenen Figur (vgl. äthHen 46.48.62f; 4 Esr 12f). In seinem Gericht über die Völker verkörpert der Menschensohn die Gerechtigkeit Gottes. In der Apokalyptik, aber auch bei Johannes dem Täufer und selbst noch bei Jesus von Nazaret eröffnet die Bereitschaft zur Umkehr die Möglichkeit, im endzeitlichen Gericht bestehen zu können. Dabei haben die Autoren der Evangelien Jesus schon bald mit dem endzeitlichen Richter und „Menschensohn“ identifiziert, dessen Kommen im Frühjudentum erwartet wurde (vgl. 4 Esra). Aus der jüdischen Erwartung eines „Tags Jahwes“ wurde in christlicher Perspektive die Erwartung eines „Tages des Herrn“, und dieser „Herr“ war für die Christ:innen kein anderer als der auferweckte Gekreuzigte.

Diese Identifikation ist kaum auf Jesus von Nazaret zurückzuführen. Wollte man aber die Person des endzeitlichen Richters nicht unverbunden neben der des auferweckten Jesus stehen lassen, dann drängte sich den frühen Christ:innenen die Identifikation beider geradezu auf. Vor allem der Evangelist Johannes betont, dass Jesus als Menschensohn immer schon bei Gott war, dass er nach seiner Menschwerdung und „Erhöhung“ am Kreuz zum Vater zurückgekehrt ist, um von diesem die Vollmacht zu erhalten, Gericht zu halten (vgl. Joh 5,27). Das Endgericht bestätigt und „verendgültigt“ nach christlichem Verständnis die Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Es hat im Wesentlichen zwei Aspekte: Zum einen wird Christus diejenigen ins Recht setzen, die im Verlauf der Geschichte unschuldig gelitten haben oder gar für ihren Glauben gestorben sind (vgl. Offb 7,14–17; 21,4). Zum anderen wird endgültig darüber entschieden, ob und in welchem Maße Menschen in ihrem Leben der von Jesus verkündeten und in seiner Person gegenwärtig gewordenen Herrschaft Gottes entsprochen haben. In der Gerichtsparabel Mt 25,31–45 ist das entscheidende Kriterium für das ewige Heil nicht das Bekenntnis zu Jesus Christus, sondern allein das sittliche Handeln des Menschen, der seinen notleidenden Nächsten nicht im Stich lässt (vgl. auch Lk 10,30–37). Im frühen Christentum verschiebt sich der Akzent der Gerichtserwartung dahingehend, dass nicht allein das Handeln, sondern das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus begründet hoffen lässt, im Gericht bestehen zu können.

Auch zeitgenössische Theologie ist vor die Frage gestellt, was es mit der Vollendung der Welt auf sich hat: Wird sich Gott angesichts des maßlosen Leidens in der Welt rechtfertigen? Wird er sich überhaupt rechtfertigen können? Wird der barmherzige Richter am Ende der Geschichte alle Schuld verzeihen? Darf er stellvertretend auch für jene vergeben, die unter ihren Peiniger:innen und Mörder:innen gelitten haben? Darf man behaupten, dass sich Jesus durch sein stellvertretendes Leiden am Kreuz das Recht erworben habe, stellvertretend zu vergeben? Oder hieße dies, die Opfer ein weiteres Mal zu verhöhnen? Läge es deshalb nicht vielmehr an den Opfern zuerst, ihren Peiniger:innen zu verzeihen? Und weiter: Lässt sich im Ernst erwarten, dass es eine ewige Verdammnis gibt? Wo Gott doch nach christlicher Überzeugung will, dass „alle Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4)? Kann die Freude der Geretteten vollkommen sein, solange sie wissen, dass es Verdammte gibt? Hätte dann nicht aber ein einziger Mensch, der sich der göttlichen Barmherzigkeit verweigert, die Macht, die Vollendung der Welt zu verhindern und auf diese Weise Gottes Heilsplan zu durchkreuzen?

Solche und ähnliche Fragen stellen sich unvermeidlich einem Glauben, der Rede und Antwort über den Grund christlicher Hoffnung stehen will (vgl. 1 Petr 3,15). Dass der barmherzige Richter nicht nur als Schöpfungsmittler verantwortlich ist für die Möglichkeit des Menschen, sich von Gott abzukehren, dass er vielmehr als der Leidende und Gekreuzigte zutiefst in die Schuldgeschichte der Menschheit verstrickt ist, dass er diese freilich in seiner Auferstehung siegreich überwunden hat und so zum Grund der Hoffnung für die Menschen wurde – das alles dürfte wohl gerade im Vergleich mit Judentum und Islam das Spezifikum der christlichen Rede von Schöpfung und Gericht ausmachen.

2. Gott als Schöpfer und Richter aus islamischer Sicht

2.1 Gott als Schöpfer aus islamischer Sicht

„Sprich: Er ist Gott, der Einzige, Gott, der Ewigwährende. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt. Und es gibt nichts, was ihm gleicht.“ Die Sure 112 im Koran beinhaltet die Kernaussage von und über Gott, in der die Grundlage der islamischen Lehre dargelegt wird, nämlich die Hingabe zu einem einzigen und lebendigen Gott, dem nichts Gleich ist. Dadurch wird die Einzigartigkeit Gottes zum Ausdruck gebracht, der großer als alles ist, was der Mensch über ihn sagen und vorstellen kann: allāhu akbar („Gott ist größer“)!

Die Schöpfung besteht aus Zeichen, die fortwährend auf Gott hinweisen. In allem, was existiert, ist das Angesicht Gottes zu erkennen (vgl. Sure 2,115). Gott offenbart sich nicht nur durch Worte an die Auserwählten und Gesandten, sondern die gesamte Schöpfung, alle Geschöpfe sind Zeug:innen für die Existenz Gottes. Die Verse im Koran und die Naturbeschreibungen und Ereignisse werden āyāt (Zeichen) genannt: „Gott ist es, der die Himmel aufgerichtet hat, ganz ohne Stützen, die ihr sehen könnt, sich dann hoch oben auf dem Thron niederließ und die Sonne und den Mond dienstbar machte: beide laufen bis zu benannter Frist. Alles hat er in der Hand. Er legt die Zeichen aus. Vielleicht seid ihr ja sicher, dass ihr eurem Schöpfer und Erhalter begegnen werdet!“(Sure 13,2) In Sure 24,35 wird das Angesicht Gottes in der Schöpfung als das Licht der Himmel und der Erde bezeichnet. Gott ist durch sein Licht sichtbar in der Schöpfung und die Schöpfung wird durch ihn sichtbar (vgl. Al-Ghazālī, Nische, 1987, 8). Gott ist Licht über Licht (Sure 24, 35) Das Beobachten und Nachdenken über die Naturereignisse und die Schöpfung wird mehrmals im Koran als Mittel zur Erkenntnis Gottes aufgeführt. Die Wechselbeziehungen und Kontinuität in der Schöpfung, die von grundlegender Ordnung beherrscht werden, weisen auf die Einheit und Weisheit Gottes, der alles erschafft und erhält. Die nachdrückliche In-Beziehungssetzung zwischen Gott und Naturereignissen war unter anderem auch der Grund für das Interesse und die Offenheit der Muslim:innen für das Verstehen und Erschließen der Zusammenhänge in der Natur und dazugehörige Wissenschaften. 

Ein Zugang zu dem unendlichen und unbedingten Gott ist nur bedingt in menschlichen Fähigkeiten und Grenzen möglich. In der islamischen Tradition sind 99 Namen Gottes bekannt. Die Zahl 99 ist eine symbolische Zahl und steht für das Umfassende, Ganze und vermittelt symbolisch, wie Gott im Islam gedacht und benannt werden kann. Durch sie tritt der Mensch in eine Beziehung zu Gott, die von der individuellen Lebenserfahrung der Menschen geprägt ist. In Sure 59,22–24 werden einige dieser Namen genannt: „Er ist Gott – der außer dem es keinen gibt, der das Offenbare und Verborgene kennt. Er ist der barmherzige Erbarmer. Er ist Gott – der, außer dem es keine Gottheit gibt. Der König, der Heilige, der Heile, der Sicherheit Verleihende, der Wächter, der Mächtige, der Gewaltige, der Hocherhabene! Gott sei gepriesen; fern sei, was sie ihm beigesellen! Er, Gott, der Schöpfer, der Erschaffer, der Gestalter. Sein sind die schönsten Namen. Ihn preist, was in den Himmeln und auf Erden ist. Er ist der Starke, der Weise.“

Für Gott gibt es keinen Anfang und kein Ende, sein Wille ist der Ursprung der Schöpfung, die er erschaffen hat, um erkannt zu werden. In einer Überlieferung heißt es: „Ich war ein verborgener Schatz und Ich sehnte Mich danach, erkannt zu werden; also erschuf Ich die Welt, auf dass ich erkannt werde.“ (Hadith qudsi: Ibn Arabi, 2006, 1). Diese Überlieferung wird besonders in der mystischen Tradition als Einladung Gottes gedeutet, ihn durch Hinweise in seiner Schöpfung zu erkennen. Die Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten, die für das Bestehen der Schöpfung notwendig sind, sind in der Liebe, Weisheit und Barmherzigkeit Gottes begründet.

Die Barmherzigkeit ist der Name Gottes, der mehrfach erwähnt und auch in täglichen Handlungen präsent ist. Nicht nur jeder Abschnitt des Koran – mit Ausnahme von Sure 9 – beginnt mit dem Satz: „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen“, sondern jede Handlung sollte mit diesem Spruch beginnen, um sich in allen Angelegenheiten die Begleitung Gottes zu vergegenwärtigen. Die Barmherzigkeit und Strenge Gottes stehen jedoch im Koran oft nebeneinander: „Wisset, dass Gott streng im Strafen ist und dass Gott verzeihend und barmherzig ist.“ (Sure 5,98) Um Gott zu erkennen, müssen beide Aspekte gemeinsam gedacht werden. Im islamischen Verständnis ist die Strenge Gottes eine Folge von menschlichen Taten, die die Ordnung der Schöpfung aus der Gleichgewicht bringen. Dort wo der Mensch seine Verantwortung missachtet und alle Zeichen und Warnungen bewusst ignoriert und in seinem Unfrieden ausharrt und dadurch der Schöpfung und anderen Geschöpfen schadet oder diese zerstört, zwingt Gott ihn, notfalls auch mit Gewalt, zur Einsicht und zum Einlenken, um sich wieder mit der Schöpfung zu versöhnen. Ereignisse wie die Sintflut und das Vernichten des Pharaos und seines Volkes sind exemplarische Erzählungen, wie Gott eingreift, wenn die Vermessenheit und der Übermut der Menschen, die Unterdrückung und Ungerechtigkeiten unaufhaltsam die Schöpfung aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn alle Warnungen unbeachtet bleiben und der Mensch keinerlei Einsicht zeigt, demonstriert Gott seine Macht, damit die Menschen erwachen und sich auf neue Wege begeben. Das „Eingreifen“ geschieht nicht immer so offensichtlich wie in diesen Erzählungen beschrieben werden. Sie sollen das Vertrauen auf das Eingreifen Gottes stärken, ohne den Menschen die Verantwortung zu nehmen, aktiv sich gegen Ungerechtigkeiten und Missständen einzusetzen.

Das islamische Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch in seinem Inneren ein Gottsuchender (Sure 30,30) und sein Herz das Instrument zum Erkennen Gottes ist: „Himmel und Erde umfassen Mich nicht, aber das Herz Meines liebenden Dieners umfasst Mich.“ (Schimmel, Zeichen, 1995, 56) Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist die zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Unabhängigem und Bedürftigem, zwischen Unbedingtem und Bedingtem (vgl. Sure 35,15). Gott hält diese Verbindung durch seine Liebe, Barmherzigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit aufrecht. Der Mensch muss seine innere, von Gott gegebene Zuwendung entdecken und durch seine Taten pflegen. Das Vertrauen auf die Anwesenheit Gottes ermöglicht auch die schweren Momente des Lebens anzunehmen und diese soweit es möglich zu ertragen: „Im Gedenken an Gott finden die Herzen Ruhe und Gewissheit.“ (Sure 13,28)

Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist die Rede von Ehrfurcht und „sich vor Gott in Acht zu nehmen“ (taqwā). taqwā entsteht, wenn der Mensch die Größe und Unendlichkeit Gottes und die eigene Bedürftigkeit, Schwäche und Abhängigkeit erkennt. Das Wort taqwā, das häufig mit „Ehrfurcht“ bzw. „Furcht“ übersetzt wird, hat im Arabischen die Bedeutung „Schutz vor negativen Einflüssen und Eigenschaften“ und beschreibt, dass der Mensch sich stets Gott zuwendet und sich nicht von ihm entfernt. Dadurch wird der Glaube zu einer dynamischen Kraft, die Zuversicht und Vertrauen erzeugt, den Menschen vor Egozentrismus und Befangenheit befreit und ihm ermöglicht, ein gerechtes und friedvolles Leben mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Schöpfung zu führen.

2.2 Verantwortung für die Schöpfung

In der Erschaffung der Welt gibt es Ordnung und Sinn, und alle Geschöpfe loben und preisen Gott (vgl. Sure 44,38f). Dem Menschen kommt in der Schöpfung eine besondere Stellung zu, die zugleich seine Verantwortung für die Schöpfung ausdrückt (▸ Stellvertreter Gottes: Würde und Aufgabe des Menschen). Der Mensch ist der Statthalter (khalīfa) und er hat sich laut Koran bereit erklärt, die Verantwortung, die „Treuhänderschaft“   zu übernehmen (vgl. Sure 33,72). Die Statthalterschaft wurde dem Menschen gewährt, ihm wurde die Freiheit zum Handeln und die Vernunft als Instanz der Unterscheidung gegeben und ihm auferlegt, die Schöpfung im Sinne der göttlichen Ordnung zu verwalten und sie zu seinem eigenen Nutzen und zum Nutzen der anderen Geschöpfe bedacht zu benutzen. In zahlreichen Versen im Koran wird der Mensch ermahnt, nicht Eigennutz und Profit als Ziel seiner Handlungsweise zu setzen, sondern maßvolle und bedachte Nutzung: „Verderbt die Welt nicht, nachdem sie fein geordnet ist.“ (Sure 7,56) Das Recht, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, beinhaltet notwendigerweise die Verpflichtung, sie zweckgebunden zu nutzen. Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema in der islamischen Ethik und Rechtsprechung und das Gemeinwohl ist das Ziel: „Gott gebietet, gerecht zu handeln, uneigennützig Gutes zu tun und freigiebig gegenüber Nächsten zu sein. Er [Gott] untersagt das Schändliche, das Verwerfliche und die Gewalttat“ (Sure 16,90).

2.3 Gott als Richter aus islamischer Sicht

Der Koran spricht vom Prinzip „Belohnung und Bestrafung“ im ewigen Leben nach dem Tod. Der barmherzige Gott ist auch der gerechte Richter, vor dem der Mensch am jüngsten Tag steht und für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird. Der Mensch wird am Tage des Gerichts die Folge seiner Taten spüren und wird sich dementsprechend in einem höllischen oder paradiesischen Zustand befinden.  Gott wird nach seinem Ermessen diese Folge der Taten spüren lassen und er wird Gerechtigkeit walten lassen. Barmherzigkeit ist die einzige Verpflichtung, die Gott sich selbst im Koran vorschreibt: „Er [Gott] hat Sich zur Barmherzigkeit verpflichtet; damit Er euch an dem Tag der Auferstehung versammelt, an dem kein Zweifel ist.“ (Sure 6,12) Lohn und Strafe sind kein Willkür-Prinzip göttlicherseits, sie sind existentielle Konsequenzen des Handelns des Menschen, die der göttlichen Barmherzigkeit untergeordnet sind. Diesseits und jenseits sind zwei Polen des Daseins. Der Zustand im jenseitigen Leben ist die Folge der diesseitigen Taten. Wenn der Mensch die ewige Glückseligkeit erreichen will, ist er aufgefordert, sein Leben auf Gottes Weg auszurichten.

Die Auslegungen und Aussagen über Tod, Ende der Welt und Auferstehung beziehen sich hauptsächlich auf die Verse im Koran, darüber hinaus gibt es in den prophetischen Überlieferungen apokalyptische Vorstellungen (vgl. Khoury, Hadīth I, 2008, 151–242), die die Vorstellungen vieler Muslim:innen maßgeblich prägen. Die Umwälzung und der Untergang der Welt, wie wir sie kennen, und das Erscheinen eines gerechten Erlösers, der für die Durchsetzung von Gerechtigkeit und Frieden noch auf dieser Welt sorgt, ist die eschatologische Vorstellung der Mehrheit der Muslim:innen. Dies ist der Vorbote für das große Ereignis, den Jüngsten Tag, an dem der Mensch Gott und den begangenen eigenen Taten gegenübersteht und diese nicht verleugnen kann (vgl. Sure 99,1–8). Der Koran berichtet in Form von Bildern vom Leben nach dem Tod: Das Paradies als Ruhestätte für diejenigen, die in diesem Leben Gutes getan haben, wird mit Gärten, Wasser und allerlei Früchten beschrieben. Im Zusammenhang mit dem Paradies ist die Rede vom Zustand der Zufriedenheit, Geborgenheit und Ruhe. Gott ist mit dem Menschen zufrieden und der Mensch ist mit Gott zufrieden, heißt es im Koran (vgl. Sure 5,119; 9,100; 58,22; 89,26–30).  

Der höllische Zustand wird mit Qual, Unruhe und Sehnsucht nach unerreichbarer Einheit mit Gott beschrieben. Die Hölle als Zustand für Ungerechte, Tyrannen und Menschen, die die göttliche Ordnung schädigen und durch ihre Taten die Schöpfung verderben, ist ein deutlicher Hinweis auf die Verantwortung und Aufgabe der Menschen in dieser Welt. Wie es genau aussehen wird, obliegt Gott und Seinem Ermessen. Die Hoffnung darf der Mensch nicht verlieren, er kann sich aber auch nicht nur auf diese Hoffnung verlassen, ohne sich zu bemühen, sein Leben nach göttlichen und ethischen Prinzipien und Werten zu orientieren. Paradies und Hölle werden im Koran bildhaft dargestellt, somit gibt es unterschiedliche Meinungen, wie diese zu deuten sind: Sind Hölle und Paradies Orte, an denen jeder Mensch leibhaft die Strafe und Belohnung erfährt, oder ist es die Seele, die einen paradiesischen oder höllischen Zustand erlebt? In diesem Zusammenhang sind weitere Fragen über den Ursprung von Gut und Böse sowie den Sinn von Strafe und Belohnung diskutiert worden, die in diesem Beitrag aufgrund der Dichte der Diskussionen nicht angemessen behandelt werden können. Die Mehrheitsmeinung der Gelehrten geht von einem Seelenzustand aus, in der sich der Mensch befinden wird, während die Volksfrömmigkeit Hölle und Paradies als Ort der Bestrafung und Belohnung deutet.

Fazit

Christ:innen und Muslim:innen stimmen darin überein, dass die Welt von Gottes Allmacht umfasst und getragen ist. Die Frist zwischen der Erschaffung der Welt und dem Jüngsten Gericht deuten sie als eine Zeit der Bewährung. Und doch entscheiden am Ende nicht Tun oder Unterlassen über Heil oder Unheil der Menschen, sondern die Barmherzigkeit Gottes. Diese verbinden Christ:innen mit der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte des Volkes Israel und der Gestalt Jesu von Nazaret, wohingegen Muslim:innen Gottes bleibende Transzendenz auch in seiner Weltzugewandtheit betonen. Obwohl sie die Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt unterschiedlich bestimmen, sehen sich Christ:innen und Muslim:innen verpflichtet, die Welt in ihrer Vielfalt als Gabe Gottes und anvertrautes Gut dankbar anzunehmen und verantwortlich mit ihr umzugehen.

Zum Weiterlesen

Beintker, Michael (Hg.), Sünde und Gericht, Neukirchen-Vluyn 1994

Fuchs, Ottmar, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007

Ibn Arabi, Muhyiddin, Der Verborgene Schatz – Des größten Meisters mystische Philosophie der Einheit aller Existenz, Zürich 2006

Kehl, Medard, Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung, Freiburg 2006

Löning, Karl/Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997

Renz, Andreas/Gharaibeh, Mohammad/Middelbeck-Varwick, Anja/Ucar, Bülent (Hg.), „Der stets größere Gott“. Gottesvorstellungen in Christentum und Islam, Regensburg 2012

Schimmel, Annemarie, Die Zeichen Gottes – die religiöse Welt des Islam, München 1995

Khorchide, Mouhanad, Karimi, Milad,von stosch, Klaus (Hrsg.) Theologie der Barmherzigkeit? – Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalām, Münster 2014

Khorchide, Mouhanad, Gott glaubt an den Menschen – mit dem Islam zu einem neuen Humanismus, Freiburg im Breisgau, 2015

Authors

  • Prof. Dr., Frankfurt / Main, geb. 1960, römisch-katholisch; Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte sowie Leiter des Alois-Kardinal-Grillmeier-Instituts für Dogmengeschichte, Ökumene und interreligiösen Dialog an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt / Main

  • Dr. M. A., Hannover, geb. 1954, muslimisch (schiitisch); bis 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie, Universität Paderborn, Dozentin an der Universität Hannover, Sprecherin des Rates der Religionen Hannover.

Andere Texte zu diesem Kapitel

Themen

Gemeinsam vor Gott: Gebet und Spiritualität

Das Gebet ist nicht einfach zu fassen und nur schwer in Definitionen zu zwängen. Vereint es doch verschiedene widerstrebende Pole in sich: Es wendet sich ganz Gott zu und betrifft doch den Menschen in seinem Inneren. Es ist sehr persönlicher, existenzieller Ausdruck und doch immer auch öffentlicher Akt und Mitte einer religiösen Gemeinschaft. Es ist fest gebunden an eine spezifische religiöse Tradition und doch der offensichtliche Verbindungspunkt zwischen Christentum und Islam. Deswegen erkundet der folgende Artikel das Gebet auf christlichen und islamischen Wegen, die getrennt sind, sich aber dennoch immer wieder überschneiden oder in ihren Unterschieden erhellende Konstellationen bilden. Er tut dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit, indem er sich einfachen Fragen zuwendet, anhand derer Verbindungen und Differenzen aufscheinen: Zu wem wird gebetet? Wer betet? Wie und wo wird gebetet? Wie wichtig ist die Gemeinschaft für das Gebet? Nicht primär, so sei festgehalten, geht es um Formen, Orte und konkrete Anregungen für ein gemeinsam gestaltetes Gebet von Christ:innen und Muslim:innen – diesen Fragen wird ein eigener Artikel gewidmet sein.

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Keiner glaubt für sich allein: Kirche und Umma

Das Glaubensleben in und mit der Gemeinschaft ist im Christentum wie im Islam ein Grundbestandteil religiöser Praxis. Zur Kirche als theologisch begründeter Institution gibt es im Islam keine unmittelbare Entsprechung. Die Idee der Umma steht für die weltweite Gemeinschaft der Muslime. Der Beitrag fragt nach dem Wesen von Kirche und Umma, nach dem jeweiligen Verhältnis der einzelnen Gläubigen zur Glaubensgemeinschaft, sowie den Aufgaben und Autoritäten dieser Glaubensgemeinschaften.

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Gerechtigkeit schaffen, Unrecht beenden: Frieden und Gewalt

Über Jahrhunderte wurden gewaltsam ausgetragene, politisch motivierte Konflikte religiös aufgeladen. »Heiliger Krieg« ist der überkommene Begriff, mit dem eine direkte göttliche Autorisierung von Gewalt behauptet wird. Ist diese Vorstellung aus den Schriften des Islam und des Christentums begründbar? Wie bestimmen die beiden Religionen das Verhältnis Gottes zu Gewalt und Frieden? Was leiten sie daraus für ihre staatliche und gesellschaftspolitische Verantwortung auf nationaler und internationaler Ebene ab?

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Verantwortung für das Leben: Grundlagen der Ethik

Der Dialog des Handelns auf der Grundlage gemeinsamer Weltverantwortung gehört zu den zentralen Dimensionen des interreligiösen Dialogs. Durch den religiösen Sinnhorizont des Handelns bewegt sich dieser Dialog nicht auf einer rein pragmatischen Ebene, sondern umfasst immer auch Bezüge zu zentralen theologischen Fragen. Lässt sich in vielen ethischen Problemstellungen Einigung zwischen den Religionen erzielen, so werden sowohl in den Grundansätzen als auch in Einzelfragen Differenzen sichtbar. Es würde eine Verengung darstellen, religiöse Ethiken als geschlossene Systeme von Erlaubtem und Verbotenem zu betrachten. Daher sind im interreligiösen Dialog nicht in erster Linie Einzelnormen, sondern hermeneutische Fragen und Konstruktionsprinzipien der Ethiken miteinander zu vergleichen. Der Beitrag erläutert in einem ersten Schritt das allgemeine Verständnis von Ethik und arbeitet die Besonderheiten religiöser Ethik heraus. Ein zweiter Schritt fragt nach der Orientierungsfunktion von christlicher und islamischer Ethik. Die unterschiedliche Verortung von Ethik und islamischer und christlicher Theologie wird in einem weiteren Schritt reflektiert ebenso wie die Relevanz von Bibel und Koran. In der modernen Ethik bildet „Verantwortung“ den Schlüsselbegriff, der schließlich für verschiedene Handlungsfelder konkretisiert wird. Den Abschluss bildet die Frage, welche Bedeutung ethische Fragen für den interreligiösen Dialog und das gesellschaftliche Zusammenleben haben.

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Gerecht und barmherzig? Glauben an Gott angesichts des Leids

Menschen erfahren leid durch Krankheit, Krieg, Naturkatastrophen, Tod. Christentum und Islam sind mit ihrem Glauben an den einen allmächtigen, barmherzigen und gerechten Gott und ihrer Ethik angesichts der universalen Leiderfahrung besonders herausgefordert. Der Beitrag geht der Frage nach, wie Bibel und Koran, christliche und islamische Theologie mit Theodizeefrage umgehen, welche Antwortversuche sie geben.

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Stellvertreter Gottes: Würde und Aufgabe des Menschen

Die Frage nach dem Verständnis des Menschen ist grundlegend für das Verhältnis und das Zusammenleben von Christen und Muslimen. Gibt es eine gemeinsame Basis, von der aus die Würde des Menschen begründet und verteidigt werden kann? Können Christen und Muslime gemeinsame Aussagen über die Aufgabe und Bestimmung des Menschen machen? In drei Schritten werden in diesem Beitrag die Aspekte Geschöpflichkeit und Würde, Freiheit und Verantwortung, Sünde und Glaube des Menschen jeweils aus christlicher und muslimischer Sicht beleuchtet.

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Urbild des Glaubens: Abraham als gemeinsamer Stammvater

Abraham ist im interreligiösen Dialog zu einer die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam verbindenden Programmfigur aufgestiegen. Dies gilt sowohl für wissenschaftliche wie für praxisbezogene Arbeit. Mit großer Selbstverständlichkeit ist deshalb inzwischen von den drei abrahamitischen bzw. abrahamischen Religionen bzw. der abrahamischen Ökumene die Rede. Viele Dialoginitiativen nutzen „Abraham“ als Teil ihres Namens, um anzuzeigen, dass den Religionen etwas Gemeinsames und Verbindendes zugrunde liegt. In den letzten Jahren traten jedoch die Bedeutung der Unterschiede und der Umgang damit stärker in den Vordergrund. Welche Rolle Abraham im gegenwärtigen interreligiösen Dialog tatsächlich spielen kann oder auch spielen sollte, hängt an der Rezeption der biblischen Erzählungen in den Theologien und Religionen, was insgesamt zumindest zur Differenzierung herausfordert.

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Gottes Wort in der Geschichte: Bibel und Koran

Dass Gott zu den Menschen gesprochen und ihnen sein Wort anvertraut hat, glauben Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen gemeinsam. Zugleich sind sie darin aber auch erheb-lich geschieden. In der Bibel – für Jüdinnen und Juden „Tora, Propheten und Schriften“, für Christ:innen die Einheit aus Altem und Neuem Testament – und im Koran haben sie ihr je eige-nes Fundament und den unaufgebbaren Ausdruck ihrer Identität. Somit hat die Frage, wie Jü-dinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen sich wechselseitig verstehen und zueinander verhalten können, angesichts dieser Bücher besonderes Gewicht. Für den christlich-islamischen Dialog ist dies ein zentrales Thema. Zugleich aber betrifft es auch das je eigene Selbstverständ-nis: In der Wahrnehmung der anderen Religion wird man sich der eigenen neu bewusst.

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Leben in Freiheit und Würde: Menschenrechte

Menschenrechte sind in der deutschen Verfassung wie auch in internationalen Konventionen kodifiziert. Religionen sind Nutznießer der dort garantierten Religionsfreiheit und stehen in der Verpflichtung, diese Rechte auch ihrerseits zu unterstützen und zu gewähren. Im Christentum wie im Islam sind Menschenrechte vor allem in der Würde des Menschen begründet. Das Verhältnis von göttlichen Rechtssetzungen und menschlichem Recht führt in einige Sachfragen zu unterschiedlichen Akzenten oder Vorbehalten. In der praktischen Umsetzung von Menschenrechten gibt es weiterhin Defizite, so vor allem in der Gewährung von Freiheiten und Gleichheiten und im Umgang mit Andersdenkenden und religiösen Minderheiten.

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Jesus: Prophet oder Sohn Gottes?

Jesus wird im Christentum als Sohn Gottes bezeichnet, und in der islamischen Tradition ist er ein Auserwählter und Gesandte Gottes. Die unterschiedliche Perspektive auf Jesus von Nazareth führte oft zu einer apologetischen Haltung und pauschalen gegenseitigen Kritik und Ablehnung. In diesem Artikel werden die christliche und muslimische Perspektive differenziert dargelegt. Trotz Eigenmerkmale in der jeweiligen Religion gibt es Erzählungen im Koran über Jesus, die auch in der Bibel zu finden sind. Der Kern der Botschaft Jesu, der Glaube an einen einzigen Schöpfer, ist eine verbindliche gemeinsame Überzeugung, die in diesem Artikel hervorgehoben wird.

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Worauf hoffen wir? Heil in Diesseits und Jenseits

Die Drohung mit dem Höllenfeuer und die Hoffnung auf das Paradies sind Motive, die in vielen religiösen Überzeugungen zu finden sind. Die Lehre von den letzten Dingen wird im Christentum und Islam zwar unterschiedlich dargelegt, hat aber auch Übereinstimmungen in den biblischen und koranischen Vorstellungen. Die historischen Wurzeln des Jenseitsglaubens liegen außerhalb der beiden Religionen und gehen auf ältere Zeugnisse der alten Religionen zurück. In diesem Artikel wird die Endgerichts- Theologie der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts aus den Quellen und theologischen Diskursen im Christentum und Islam vorgestellt.

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Den Glauben bezeugen: Zum Verhältnis von Dialog und Mission

Im Christentum und Islam soll der Mensch den Glauben bezeugen und mit Worten und Taten den anderen zum Glauben einladen. Während im Christentum Mission als Bezeugen, Mitteilen, Überzeugen und Menschen für den Glauben gewinnen, gesprochen wird, wird im Islam von Einladung zum Glauben gesprochen. In diesem Artikel wird der Begriff Mission aus den christlichen und islamischen Perspektiven erläutert und in Beziehung zum Dialog gesetzt.

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Partnerschaft, Ehe und Familie

Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über das Phänomen Partnerschaft, Ehe und Familie im Hinblick ihrer Gestaltungsformen sowie aus der islamischen als auch christlichen Perspektive. Beide abrahamitischen Religionen tragen maßgeblich zur Stabilisierung und Versittlichung dieser bei. Nicht zuletzt sind im christlich-islamischen Austausch Unterschiede und Gemeinsamkeiten ebenso zu beachten wie auch Unterschiede innerhalb der christlichen Konfessionen. Relevant werden diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten insbesondere bei der Anwendung der deutschen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis des Ehe- und Familienrechts auf andere Länder, wenn eingewanderte Migrant:innen in ihrem Herkunftsland geheiratet haben und ihr Familien- und Erbrecht mit nach Deutschland bringen.

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Muhammad: Vorbild für Muslime – Anfrage an die Christen

Einer der Glaubensgrundsätze des Islams fordert den Glauben an den von Gott berufenen Gesandten und Propheten Muhammad. Als Empfänger und Verkünder der göttlichen Offenbarung, stellt er eine Erstinterpretation der göttlichen Botschaft dar, um diesen eine Gestaltungsform zu geben. Dieser zeichnet sich durch Frömmigkeit, Aufrichtigkeit und seiner Barmherzigkeit aus, der durch seine Lebensführung den Muslim:innen als Rechtleitung gilt.
Der vorliegende Artikel soll aufzeigen, wie die Integration des Propheten Muhammad in die biblische Tradition unter Betrachtung der Eigenschaften und der Lebensweise des Propheten erfolgen kann, da die Anerkennung und Verehrung des Propheten Muhammad seitens der Muslim:innen nicht auf die gleiche Anerkennung seitens der Christ:innen stößt, die bisher nicht dazu bereits waren, ihm die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen.

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