Einleitung
Unter Menschenrechten versteht man solche Rechte, die Menschen allein aufgrund ihrer Existenz zukommen und die ihnen nicht erst durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft verliehen werden. Die grundlegende Bedeutung solcher Rechte zeigt sich im deutschen Grundgesetz, das in Artikel 1 feststellt: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Die in der Würde des Menschen begründeten Menschenrechte bilden demzufolge die Grundlage alles menschlichen Zusammenlebens, und deren Schutz ist die Aufgabe eines modernen Rechtstaats.
Das 1949 beschlossene Grundgesetz bezieht sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, in der die „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“ als „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ deklariert worden waren. Die Formulierung solcher Grundrechte war in der Menschheitsgeschichte keineswegs selbstverständlich. Nach Vorläufern in einzelnen Ländern ab dem 18. Jahrhundert haben die Konflikte und Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu der historischen Einsicht geführt, dass Menschenrechte kodifiziert werden und eine weltweite Verbindlichkeit erhalten müssen.
Das Thema Menschenrechte hat im christlich-muslimischen Dialog zwei Aspekte. Einerseits ist die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welches Verhältnis die Religionen zu diesen Rechten hatten und haben. Sind sie Förderer, Trägerinnen oder sogar Anwältinnen der Menschenrechte oder deren Kritikerinnen? Andererseits ist die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der religiösen Überzeugung ein wesentlicher Aspekt der Menschenrechte. Damit kommen Religionen in den Genuss und Schutz dieser Rechte, soweit diesen durch die nationalen Verfassungen Geltung verschafft wird. Wie ist die Lage der Religionsfreiheit weltweit? Profitieren Religionen gerne für sich selbst von diesem Recht oder sind sie auch aktive Verteidiger dieser Normen für andere?
1. Christentum und Menschenrechte
Obwohl die Bibel als wichtigste Grundlage des christlichen Glaubens nicht von Menschenrechten im modernen Sinn spricht, treten die Kirchen heute nachdrücklich für die Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte ein und engagieren sich in vielfältigen Formen für diese Rechte und deren Beachtung. Auf katholischer Seite erfolgte die Anerkennung der Menschenrechte erstmals in der Enzyklika Pacem in terris Johannes’ XXIII. von 1963 sowie im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (vgl. Gaudium et Spes 27–29) und der Erklärung Dignitatis Humanae. Das vom Päpstlichen Rat Justitia et Pax 1991 veröffentlichte Dokument „Die Kirche und die Menschenrechte“ sieht den Menschen als freies eigenständiges Subjekt und leitet daraus das Recht ab, frei von jeder Gewalt, frei in seinen Gedanken und frei in seinen religiösen und politischen Überzeugungen zu leben. Der Ökumenische Rat der Kirchen formulierte 1974 in einer Erklärung in St. Pölten grundlegende menschenrechtliche Standards, und die Evangelische Kirche in Deutschland beschrieb in ihrer Denkschrift „Die Menschenrechte im ökumenischen Gespräch“ (1975) Grundlinien für ein christliches Verständnis der Menschenrechte. In der orthodoxen Kirche finden sich sowohl die Begründung von Menschenrechten im Gedanken der „Heiligkeit des Lebens“ als auch Vorbehalte gegenüber einer zu starken Betonung individueller Freiheit.
1.1.Theologische Begründungen
Es sind vor allem vier grundlegende und in der Bibel zu findende Gedanken, die für die Begründung und Unterstützung der Menschenrechte aus christlicher Sicht von Bedeutung sind.
- Der für die Menschenrechte grundlegende Gedanke der Würde des Menschen knüpft in der biblischen Theologie an den Schöpfungsbericht (Gen 1,26f) an, in dem die Gottesebenbildlichkeit des Menschen beschrieben wird. Der Mensch ist „nach dem Bilde Gottes geschaffen“ und hat deshalb ein besonderes Verhältnis zu Gott und eine herausgehobene Stellung gegenüber anderen Teilen der Schöpfung. Aus dieser Rolle und seiner Würde ergibt sich die Mitverantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Zudem wird in einigen theologischen Konzepten das spezifisch Menschliche in der Möglichkeit zum Gebrauch der Vernunft gesehen und demzufolge die Normen der Menschenrechte als Ausdruck menschlicher Einsicht und Vernunft verstanden.
- Der Gedanke der Allgemeingültigkeit und Universalität der Menschenrechte kehrt im Neuen Testament in der Aussage des Apostels Paulus wieder, dass die Unterschiede zwischen den Menschen als nachrangig zu werten seien gegenüber der Gemeinsamkeit als „Kinder Gottes“ (Gal 3,26–28).
- Das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe (Lev 19,18; Mk 12,29 ff u. ö.) fordert, sich anderen zuzuwenden und in Solidarität mit ihnen zu leben, gerade auch wenn sie nicht zur eigenen Gemeinschaft gehören, sondern sich feindlich verhalten. In ähnlicher Weise unterstreichen Gebote und Vorbilder im Alten wie im Neuen Testament die besondere Zuwendung und Fürsorge für die Schwächeren, für Arme, Benachteiligte und Fremdlinge. In den 1960er und 1970er Jahren hat dieser Gedanke in der Formulierung einer „vorrangigen Option für die Armen“ eine wichtige Bedeutung in der christlichen Theologie wie auch für kirchliches Handeln weltweit erlangt.
- Die Anerkennung Gottes als letztgültige Autorität schließt die Überzeugung ein, dass alle menschliche Autorität oder Gewalt grundsätzlich begrenzt ist. Keiner weltlichen Instanz kann das Recht zugesprochen werden, einem Menschen seine Würde abzusprechen. Mit der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen werden menschlichem Handeln und weltlichen Autoritäten Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden dürfen.
1.2. Entwicklung zur Formulierung der Menschenrechte
Obwohl in der christlichen Tradition – wie auch in anderen Religionen und Kulturen – Grundgedanken und Ansätze zu menschenrechtlichen Normen und Überzeugungen zu finden sind, hat es in der Geschichte des Christentums auch gegensätzliche Kräfte und Entwicklungen gegeben. Lange Zeit sahen die Kirchen ihre Aufgabe darin, der göttlichen Wahrheit zum Recht zu verhelfen, und setzten diese über die Rechte der menschlichen Person. Zudem wurde die Idee der Menschenrechte von Vertretern des Liberalismus und Laizismus vorangetrieben und von kirchlicher Seite als ein Angriff auf die eigenen Überzeugungen verstanden. Vor diesem Hintergrund sind viele Schritte, die bis zur neuzeitlichen Ausprägung der Menschenrechte geführt haben, in Auseinandersetzung mit Kirche und Christentum vollzogen worden oder sind aus innerkirchlichen Konflikten und Reformen hervorgegangen.
So wurde beispielsweise bei der Eroberung Amerikas der dortigen Urbevölkerung von christlicher Seite oft abgesprochen, „wirkliche Menschen“ zu sein. Erst langsam setzte sich die Einsicht in ihre Würde, ihre Vernunftbegabtheit und die Notwendigkeit des Einsatzes für ihre Rechte durch. Die Reformation setzte die „Freiheit eines Christenmenschen“ gegen die Autorität des kirchlichen Lehramtes. Das „Priestertum aller Gläubigen“ beförderte die Verantwortung des Einzelnen, die Gewissensfreiheit und die kritische Bewertung von geistlicher Autorität. Die Auswanderung unterdrückter religiöser Minderheiten nach Nordamerika erstritt dort religiöse Freiheiten, und die „Virginia Bill of Rights“ formulierte 1776 erstmals den Grundsatz: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte…“ (Artikel 1). Die Französische Revolution verkündete „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ mit säkularistischer Ausrichtung. Erst die Einsicht in die Notwendigkeit des weltweiten Schutzes von Menschenrechten nach den Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass die christlichen Kirchen die Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 begrüßt, gefördert und sich insbesondere für den Schutz der Religionsfreiheit eingesetzt haben.
Die Menschenrechte in ihrer heute existierenden Form sind also einerseits aus wichtigen christlichen Überzeugungen heraus entstanden und von diesen beeinflusst worden. Dennoch sind diese Rechte zum Teil auch gegen die Kirche oder in Abgrenzung zu den jeweiligen christlich geprägten Machtstrukturen und Herrschern erstritten worden. Da Menschenrechte von ihrer Natur her universal sind und Allgemeingültigkeit beanspruchen, sind sie per definitionem nicht (allein) christlich, sondern stehen für die Unterstützung und Begründung auch anderer Religionen und Weltanschauungen offen. Sie müssen also in diesem Sinne als begründungsoffen verstanden werden. Im Interesse einer weltweiten Umsetzung und einer kritischen Weiterentwicklung ist ein Dialog zwischen den verschiedenen Religionen von wesentlicher Bedeutung. Zugleich müssen sich die Kirchen wie auch andere Religionsgemeinschaften gefallen lassen, selbst nach den menschenrechtlichen Maßstäben überprüft zu werden.
1.3 Religionsfreiheit
Religionen sind nicht nur Nutznießerinnen von Religionsfreiheit, sondern sie müssen sich auch die Frage stellen lassen, ob sie für diese Freiheit nur für sich selbst oder die Angehörigen ihres Glaubens aktiv eintreten, jedoch dieses Recht anderen Religionen nicht zubilligen. Die christlichen Kirchen engagieren sich heute intensiv für weltweite Religionsfreiheit, da diese in vielen Ländern bedroht ist. Christ:innen wie auch Gläubige anderer Religionen, insbesondere von religiösen Minderheiten, erleiden Benachteiligungen, Bedrohungen und Verfolgungen in vielen Ländern. Auch in Staaten, in denen Religionsfreiheit verfassungsmäßig garantiert ist, ist diese oftmals durch andere Rechtsnormen, eine intolerante oder autoritäre Politik, durch radikale Gruppen oder Konflikte und Kriege bedroht oder außer Kraft gesetzt. Die Kirchen treten nicht nur für die Religionsfreiheit von Christ:innen weltweit ein, sondern fordern diese Freiheit auch für andere Religionen. Sonst wäre ihr Eintreten auch unglaubwürdig. Da die Religionsfreiheit in zahlreichen Ländern mit muslimischer Prägung bedroht oder eingeschränkt ist, ist diese Situation ein wichtiges Thema für den Dialog zwischen Muslim:innen und Christ:innen.
2. Islam und Menschenrechte
2.1 Würde und Gleichheit aller Menschen
Es ist offensichtlich, dass Menschenrechte als verfasstes Recht nicht explizit im Koran aufgeführt sind. Jedoch werden aus dem Koran einige natürliche und unveräußerliche – von Gott festgelegte Freiheiten – abgeleitet. Diese Freiheiten und Rechte sind im Kontext des Rechtsverständnisses des siebten Jahrhunderts zu verstehen, in dem göttliches Recht eine zentrale Rolle für das gesellschaftliche Zusammenleben spielte. Die im Islam erwähnten Freiheiten der Menschen werden durch den Willen und die Gesetzmäßigkeiten Gottes eingeschränkt. Die Freiheit im Islam ist nicht ohne Grenzen und soll die Rechte der anderen und die ethischen Prinzipien berücksichtigen; zugleich ist Freiheit eine existentielle Voraussetzung für das Tun. In einer Überlieferung von Imam Husein – dem dritten Imam in der schiitischen Tradition – wird die Bedeutung der Freiheit, unabhängig vom Glauben, als grundlegend für das menschliche Dasein dargelegt: „Wenn ihr auch nicht glaubt und auch keine Furcht vor Gottes Gericht habt, seid in dieser Welt freidenkende und freihandelnde Menschen!“ (Shuhrabi, Huquq, 1998, 120)
Der Mensch muss die Konsequenz seines Tuns im Vorfeld überlegen, die ethische Vertretbarkeit überprüfen und sich bewusst sein, was er nachhaltig mit seinen Handlungen bewirkt. Im islamischen Rechtsverständnis sind Rechte mit Pflichten verbunden, die jeder Mensch gegenüber Gott, den Mitmenschen und der Schöpfung hat. Das Wohl der Gemeinschaft ist das wesentliche Ziel, die individuellen Rechte sind zu respektieren und zu gewähren, sofern sie diesem nicht widersprechen. Nach islamischer Auffassung ist der Mensch Träger:in einer von Gott verliehenen unveräußerlichen Würde: „Gewiss, Wir verliehen den Kindern Adam Würde, Wir trugen sie über Land und Meer, Wir versorgten sie mit guten Dingen, und Wir zeichneten sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, aus“ (Sure 17,70).
Die Gleichwertigkeit der Menschen lässt sich mit Sure 4,1 begründen, in dem die Erschaffung des Menschen aus einem einzigen Wesen erwähnt ist. Die Vielfalt unterliegt dem Willen Gottes: „Ihr Menschen! Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen und zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch untereinander kennen lernt. Der Angesehenste von euch bei Gott ist der, der am meisten sich vor Gott in Acht nimmt. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem“ (Sure 49,13). Die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung wird aus zahlreichen Versen im Koran abgeleitet, die die Menschen zum Nachdenken auffordern. Dem Denken und Verstehen ist die Freiheit vorausgesetzt, die den Menschen ermöglicht, ihre Gedanken zu äußern, zu reflektieren, zu entfalten, um angemessene Grundlagen zum Handeln erschließen zu können.
2.2 Religionsfreiheit
Die Aussagen im Koran über die Religionsfreiheit sind ambivalent. Es gibt Verse, die prinzipiell die freie Entscheidung für den Glauben für unerlässlich erklären: „Und sprich: ‚Es ist die Wahrheit von eurem Schöpfer und Versorger. Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge leugnen. Wir haben denen, die Unrecht tun, ein Feuer bereitet, dessen Zeltdecke sie umschließt‘“ (Sure 18,29). Nachdem der Prophet Muhammad bei manchen Mekkanern kein Gehör für seine Botschaft fand, wurde er in einer Offenbarung aufgefordert, ihnen gegenüber einer klaren Position zu beziehen. Jedoch war es nicht seine Aufgabe, sie mit allen Mitteln zur Annahme des Glaubens zu zwingen: „Ich verehre nicht, was ihr verehrt, auch ihr verehrt nicht, was ich verehre. Weder werde ich verehren, was ihr verehrt, noch werdet ihr verehren, was ich verehre, euch eure Religion, mir meine Religion“ (Sure 109,2–6).
Die Mehrheit der Gelehrten beziehen sich darüber hinaus auf den Vers 255 in Sure 2 – „es kann keinen Zwang im Glauben geben“ – und leiten davon ab, dass der Glaube nur freiwillig durch Erkenntnis im Herzen und Verstehen durch Vernunft entstehen kann. Dieser Vers wird nicht von allen Kommentatoren als umfassende Freiheit gedeutet, die auch einen Glaubenswechsel beinhaltet, sondern die Freiheit, innerhalb der islamischen Lehre die Anordnungen zu befolgen oder auch nicht. Der Mensch hat die Freiheit sich zu entscheiden, was er tun und unterlassen will, muss aber stets bedenken, welche Wirkung seine Taten in der Gestaltung seines diesseitigen und jenseitigen Lebens haben. Die Kommentatoren, die diesen Vers als eine umfassende Religionsfreiheit verstehen, sind der Meinung, dass der Glaube die innere Einstellung, basierend auf individuellen Erfahrungen, ist und nicht von außen erzwungen werden kann. In einer weiteren Stelle im Koran wird der Prophet Muhammad ermahnt, die Menschen nicht zum Glauben zu drängen: „Wir haben dich nicht zum Hüter über sie gemacht, und du bist nicht als Sachwalter über sie eingesetzt“ (Sure 6,107).
Gleichwohl gibt es andere Aussagen, die durch entsprechende Interpretation als Legitimation für Zwang als Mittel zur Umkehr zum Glauben gedeutet werden können: „Wer eine andere Lebensweise als den Islam (= Gottergebenheit) sucht, von dem wird es nicht angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu den Verlierern“ (Sure 3,85). Mit diesem Vers kann dem Islam eine exklusivistische Position zugeschrieben und aus Gottes Urteil für das Jenseits das Recht der Menschen im Diesseits abgeleitet werden, die anderen Lebensweisen und Religionen nicht zu akzeptieren. Um diese beim ersten Blick vermeintlichen Konflikte in den Textstellen des Koran zu verstehen, bedarf es der Kenntnis des historischen Kontextes der Offenbarungszeit, der Koranwissenschaft und vor allem die Methodologie der Auslegung. Betrachtet man die Verse über den Glauben unter diesen methodischen Prämissen, sind die Verse, die die Freiheit zur Wahl der Religion begründen, Grundsatzverse, während die anderen besondere Situationen beschreiben, in denen eine Abgrenzung gegenüber anderen notwendig war, um die Gemeinschaft nicht zu gefährden.
Die Leugner:innen werden im Koran mit Strafen im Jenseits bedroht, eine weltliche Bestrafung wegen „Unglaube“ oder Wechsel des Glaubens ist nicht aus dem Koran abzuleiten. Das Töten der Apostaten wird in einer schwachen Überlieferung als seinerzeit übliche Strafe für Hochverrat verstanden. In der frühislamischen Zeit schlossen sich Menschen durch ständigen Wechsel des Glaubens den feindlichen Gemeinschaften an und kämpften gegen die Muslim:innen. Dieses Verhalten galt dann als Tatbestand des Hochverrats, der den Frieden in der Gemeinschaft bedrohte und wurde somit mit der höchsten Strafe der damaligen Zeit geahndet.
Die Religionsfreiheit in der modernen Auffassung umfasst sowohl die Freiheit zur Wahl als auch zum Wechsel der Religion. Basierend auf der oben erwähnten Überlieferung und der Praxis in manchen islamisch geprägten Ländern wird der Glaubenswechsel im Sinne von Verrat gegenüber dem Staat definiert. Damit wird den Eindruck erweckt, dass der Islam aus theologischer Überzeugung der Religionsfreiheit nicht zustimmen könne.
Auch wenn in einigen islamisch geprägten Gesellschaften der Islam als einzig wahre Religion deklariert wird, ist der freie Wille des Menschen, seine individuelle Verantwortlichkeit und die Notwendigkeit des bewussten und wissenden Handelns grundlegend für ein Leben in Verantwortung vor Gott. Theologische Auseinandersetzungen mit den zweifelhaften Überlieferungen und hermeneutische Erkenntnisse über die koranische Aussagen sind unabdingbar für einen Glauben, der auf Vernunft und Verstehen basiert ist.
2.3 Die Menschenrechte im Spannungsfeld zwischen den Kulturen und Religionen
Die Universalität der Menschenrechte wurde nicht von allen Staaten ohne Vorbehalt akzeptiert. Die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) verfasste im Jahr 1981 eine „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam – Kairoer Erklärung“, obwohl die meisten islamischen Länder die Erklärung der Menschenrechte ratifiziert hatten. Die OIC begründete diesen Schritt damit, dass bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die kulturellen und religiösen Bezüge der nichtwestlichen Länder nicht berücksichtigt wurden. Die Kairoer Erklärung unterscheidet sich von der Aufzählung der Menschenrechte kaum von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Präambel der Kairoer Erklärung eher ein Glaubensbekenntnis ist und somit nur als eine innerislamische Vereinbarung gesehen werden kann, die wiederum die anderen Kulturen und Religionen nicht einschließt.
Der Klausel šaria-Vorbehalt erweist sich als ein wesentliches Problem, vor allem weil die Scharia kein verfasstes und einheitliches Recht ist und von den unzähligen islamischen Richtungen unterschiedlich gedeutet und gefasst wird. Es ist nicht eindeutig, was mit diesem Begriff im Zusammenhang mit Menschenrechten gemeint sein kann. In Artikel 4 der Kairoer Erklärung heißt es: „Jeder hat das Recht, sich in seiner Angelegenheit an die šaria zu wenden, und darauf, dass er nur nach der šaria beurteilt wird: ‚und wenn ihr über eine Sache urteilt, dann bringt sie vor Gott und den Gesandten‘ (Sure 4, 59). Es ist notwendig zu klären, ob hier der Koran und die Tradition des Propheten Muhammad gemeint sind, die Wort für Wort als verbindlich befolgt werden müssen. Wenn diese beiden Quellen des islamischen Rechts unreflektiert und ohne Anwendung der Auslegung die Lebensrealitäten der Menschen ausblenden, wird die Dynamik des Islamischen Recht außer Kraft gesetzt. Hierdurch werden aus den oben genannten Quellen Aussagen entnommen, die weder mit dem koranischen Eigenverständnis noch mit dem heutigen Menschenrechtsverständnis zu vereinbaren sind. Des Weiteren heißt es in Artikel 4: „Niemand kann einen Muslim zwingen, einem Befehl, der der šaria widerspricht, zu gehorchen.“ Welche Konsequenz diese Aussage für die Akzeptanz der bestehenden Rechtssysteme hat, hängt von der Auslegung des Begriffs šaria ab. In der Kairoer Erklärung ist zwar die Gleichheit der Menschen mit unterschiedlichen Ethnien und Hautfarben erwähnt, nicht aber explizit die Gleichheit von Mann und Frau, die ein elementares Grund- und Menschenrecht ist.
Die Frage bleibt offen, ob aufgrund der kulturellen und religiösen Besonderheiten die Menschenrechte unterschiedlich definiert werden können und ob dadurch die natürlichen und unveräußerlichen Rechte der Menschen nicht relativiert und ausgehöhlt werden. Die Menschenrechte sind unteilbar und unentbehrlich, sie haben eigenständige und universelle Geltung, die nicht durch religiöse und kulturelle Besonderheiten aufzuheben sind.
3. Fazit und Ausblick
Obwohl die Kodifizierung der Menschenrechte auf internationaler Ebene ein menschheitsgeschichtlich großer Fortschritt ist und die Bemühungen um deren Durchsetzung durchaus Erfolge verzeichnen können, gibt es ohne Zweifel weiter viel zu viele Verletzungen von Menschenrechten weltweit. Die jährlichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen belegen anschaulich diese erschreckende Tatsache. Bedauerlicherweise gibt es auch viele Menschenrechtsverletzungen, bei denen religiöse Gruppen beteiligt sind oder bei denen die Täter:innen sich auf religiöse Motive berufen oder religiöse Überzeugungen als Legitimation für solches Handeln in Anspruch nehmen.
Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass es in den Religionen sehr viele Menschen und Organisationen gibt, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte und gegen Feindbilder und Intoleranz engagieren. Gemeinsame Aktionen der Religionen für die Verteidigung der Menschenrechte sollten in besonderer Weise Unterstützung finden. Das bedeutet auch, dass die gemeinsamen Überzeugungen der verschiedenen Religionen im Hinblick auf eine Stärkung der Menschenrechte mehr betont und im Vordergrund stehen sollten als der Streit um Differenzen. Im Hinblick auf den Dialog zwischen Islam und Christentum gibt es – wie oben dargestellt – gemeinsame Überzeugungen: Beide Religionen sprechen von der Würde des Menschen, unterstreichen die Gleichheit aller Menschen und kennen das Liebesgebot. Es kann aber auch nicht übersehen werden, dass es zwischen Christentum und Islam auch Differenzpunkte gibt, die in der Praxis zu erheblichen Konflikten führen können.
- Es ist zum Teil strittig, was der Gleichheitsgrundsatz im Hinblick auf Geschlechterrollen und das Verhältnis von Mann und Frau bedeutet und wie sexuelle Orientierung, besonders gleichgeschlechtliche Orientierung, zu bewerten ist.
- Die Rolle von Minderheiten und deren Rechten, auch von solchen innerhalb der eigenen Religion, wird unterschiedlich gesehen und ist oftmals mit dem Absolutheitsanspruch der eigenen Religion verbunden.
- Das Verhältnis zur Religionsfreiheit und die Freiheit zur Konversion sind Anlässe für Konflikte.
- Die Rolle von entwürdigenden Strafen und Formen der Todesstrafe ist ein weiterer Differenzpunkt, dies auch innerhalb des Islam.
- Das Verhältnis von individueller Freiheit und Anforderungen der Gemeinschaft wird teilweise unterschiedlich gesehen.
- Die Zuordnung von göttlichen Rechtssetzungen zu menschlichem Recht kann strittig sein.
Intoleranz, Hass und Missachtung von Menschenrechten können in beiden Religionen angetroffen werden. Dass auf der einen Seite der Islam stehe, auf der anderen Seite das Christentum ist ein vereinfachtes und unkorrektes Bild und übersieht oft „den Balken im eigenen Auge“ wie auch die Einflüsse von Politik, wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Traditionen. Bibel und Koran bieten beide Möglichkeiten der Begründung und Entfaltung der modernen Menschenrechte. Die Stärkung des allgemeinen Rechtsbewusstseins in der eigenen Gemeinschaft und in der Öffentlichkeit, die Stärkung von Rechtssicherheit und Durchsetzung von Rechten sowie die Weiterentwicklung bestehender Rechtsnormen sollten gemeinsame Aufgaben beider Religionen sein.
Zum Weiterlesen
Heimbach-Steins, Marianne, Menschenrechte. Lernprozesse, Konfliktfelder, Zukunftschancen in Gesellschaft und Kirche, Mainz 2001
Huber, Wolfgang, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, Berlin / New York 1992, 577–602
Bielefeldt, Heiner, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007
Ceming, Katharina, Ernstfall Menschenrechte. Die Würde des Menschen und die Weltreligionen, München 2010
Johannsen, Friedrich (Hg.), Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog. Konflikt- oder Integrationspotential? Stuttgart 2013