1. Beten – zu wem?
Beten ist nicht schwierig. Es ist eigentlich unmöglich! Denn aus christlicher Perspektive beten der und die Betende zwar oft mit der gesammelten Erfahrung von Jahrhunderten, immer aber mit menschlichen Worten, seien sie griechisch, arabisch, lateinisch, kiswahili oder deutsch. Das christliche Beten bejaht deswegen die Vielfalt der Sprachen, sie ist Ausdruck der Menschlichkeit der Worte. Von sich aus aber kann der Mensch Gott nicht erreichen. Deswegen muss das Gebet bei Gott anfangen. Diese Einsicht verbindet Christ:innen mit Muslim:innen: Das Gebet ist Gnade.
Christ:innen sehen dies durch die Überzeugung eingelöst, dass Gott selbst, sein Geist, in dem Beter betet. Dies bliebe jedoch bloße Behauptung, mit einer Tendenz sogar zu biblizistischem Fundamentalismus, wenn das Vertrauen auf Gottes Gegenwart im Beter nicht begründet wäre durch die Auffassung, dass Gott in der menschlichen Geschichte handelt, dass ihn eine Geschichte der Treue und Zuwendung mit den Menschen verbindet.
Mithin ist nach christlicher Auffassung die Möglichkeit des Betens in der Geschichte Gottes mit Israel gegeben, die in dem Leben, der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu Person und im Heiligen Geist auch den Nichtjuden gegenwärtig wird und bleibt. Deswegen ist das christliche Beten grundlegend trinitarisch. Wie Muslim:innen in der Niederwerfung und dem Berühren des Bodens mit der Stirn, in höchster Weise ihre Existenz dem barmherzigen Gott übergeben, so stellen Christ:innen in vielen kirchlichen Traditionen ihre Existenz und die (Un-)Möglichkeit, zu Gott zu beten, durch das Kreuzzeichen und in allen durch die Worte »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« Gott anheim. Zu wem also beten Christ:innen? Sie beten weder irgendwie zu irgendeinem Gott im Allgemeinen noch zu »jenem höheren Wesen, das wir verehren«, sondern sie beten »zum Vater durch den Sohn im Geist«.
Diese Eigenart sondert das christliche Beten jedoch nicht vollkommen vom muslimischen Beten ab. Es ist der spezifisch muslimischen Form des Monotheismus, den einen Gott im tauhīd (der Einheit und Einzigkeit Gottes) anzuerkennen, vielmehr als spezifisch christliche Form des Monotheismus verbunden, ohne sich dabei auf eine vom trinitarisch verfassten Christentum abstrahierte Gottesidee beziehen zu müssen. Ohne an dieser Stelle im Letzten ergründen zu können, ob und wenn, mit welchem Ziel koranische Aussagen über (und nach muslimischem Glauben von) Gott einen offenen Widerspruch zur christlich-trinitarischen Grundstruktur des Glaubens darstellen, wissen christliche Beter sich mit muslimischen Betern als Teil des einen göttlichen Heilswillens und der einen Heilsgeschichte zusammen vor Gott gestellt.
Gerade indem nach christlicher Auffassung der Beter sein Vertrauen auf Gottes Handeln in der Geschichte setzt, in der Gott sein Wesen für die Menschen entfaltet, wird deutlich: Kein Gebet hat Gott in der Hand. Betendes Sprechen, auch wenn es in festgefügten Formen erfolgt, ist immer an der Grenze des Unsagbaren und weist stets auf den Unterschied zwischen Gott und den Worten hin, die ihn erreichen wollen. Und doch ist christliches Beten, selbst wenn es schweigt, durch die Sprache geformt – und auch hierin dem muslimischen Glauben mit seiner starken Wertschätzung der Sprache verwandt. Denn Sprache ist mehr als Worte, die man vor dem je größeren Gott hinter sich lassen müsste. Sprache ist die Form, in der sich dem Menschen Wirklichkeit erschließt. Und so ist jedes christliche Gebet, auch das mystische, Sprache, weil es nicht weltlos und jenseitig ist. Beten ist vielmehr zuerst und vor allem diesseitig, im Sinne eines wechselseitigen Beziehungsgeschehens: Es richtet sich auf Gott, um von ihm her die Welt, den Alltag, das eigene Leben zu sehen und es ihm wiederum zurückzugeben, es seiner Gegenwart und Güte anzuvertrauen und so zu realisieren, was der Mensch ist: Gottes Ebenbild – Muslim:innen würden formulieren, Gottes Statthalter, khalīfa. Die Wechselseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung ist tief im christlichen Glauben begründet, dennoch findet sie auch Resonanz im muslimischen Beten, so wenn ein Gebet der Pilgerfahrt formuliert: »Verleihe uns die Süße des vertrauten Gespräches mit Dir«. Das Gebet ist für die Muslim:innen die wichtigste Form der Anbetung Gottes, denn es zeigt die Aufrichtigkeit des Menschen und seine Loyalität gegenüber Gott. Das Gebet bringt in vollkommener Weise die Anerkennung Gottes zum Ausdruck.
2. Beten – wer betet?
Wer betet? Eine seltsame Frage, wenn nicht im christlichen Beten das Gebet des Einzelnen grundgelegt wäre im Gebet der kirchlichen Gemeinschaft. Umgekehrt zur islamischen Gebetspraxis, in der das Gebet der Gemeinschaft gleichsam synchronisiertes Gebet des Einzelnen und der Einzelne der eigentliche »Zelebrant« ist, ist das christliche Gebet des Einzelnen durch die Logik der Taufe eingeordnet in das Gebet der Gemeinschaft. Die Gebetsgemeinschaft, die christliches Beten elementar braucht, ist dabei eine Zwischengröße zwischen dem einzelnen Ich und der universalen Menschheit: Biblisch ist das Volk Israel, die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger, die Gemeinden und die Kirche der wichtige Ort, in der Gottes Handeln bezeugt, gepriesen und im gemeinsamen Glauben gedeutet wird. Die Gemeinschaftsorientierung, die nicht immer ausdrücklich sein muss, mag sich realisieren in der Sprache der Psalmen, im persönlichen Stundengebet, oder, vielleicht am wichtigsten, in den vielfältigen Formen des stellvertretenden Füreinander-Betens.
Gleichzeitig verschwindet das »Ich« des Betenden niemals in der Gemeinschaft. Christliches Beten ist intim und persönlich. Gerade im Blick auf die Menschwerdung Gottes können die eigenen Erlebnisse, Gefühle und Gedanken deutend, unterscheidend und klärend als Teil der einen Geschichte Gottes mit den Menschen gesehen werden. Es gibt so nicht nur eine notwendige sich entwickelnde Gebetsgeschichte des einzelnen Menschen auf seinem Weg vom Kinder- zum Erwachsenenglauben, sondern die Lebensgeschichte, in Gottes Gegenwart gestellt, ist selbst Gebet.
Aus muslimischer Perspektive empfiehlt der Prophet Muhammad, die rituellen Gebete möglichst in Gemeinschaft zu verrichten: »Das Gebet in der Gemeinschaft ist siebenundzwanzigmal besser, als wenn man allein betet.« (Bukhārī, Kitāb al-adhān, n.30) Die freien Bittgebete hingegen, die jederzeit nach Belieben und laut oder leise verrichtet werden können, sind wertvoller, wenn sie verrichtet werden, wo niemand außer Gott sie mitbekommt. So kann man keinesfalls einfachhin einer Innerlichkeit des christlichen Betens vermeintliche rituelle Äußerlichkeit muslimischen Betens gegenüberstellen. Vielmehr teilen beide, insbesondere in Verbindung mit der mystischen Tradition, die Deutung des Gebets als Selbsterkenntnis.
3. Beten – wie beten?
Die Vielfalt der Gebetsformen ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Von hierher erhält das individuelle Beten seine Weite: »Alle positiven religiösen Akte, die sich erkennend u. wollend direkt u. ausdrücklich auf Gott beziehen, können als Gebet bezeichnet werden« (Rahner 1960, 543).
Die Vielfalt kann aus muslimischer Perspektive zunächst wie folgt beschrieben werden: Insgesamt unterscheidet der Islam zwischen zwei Formen des Gebetes: Das freie (formlose) Bittgebet (arab. du‛ā), das jederzeit nach Belieben laut oder leise gebetet werden kann, und das rituelle Gebet (arab. salāt), das eine bestimmte Abfolge hat und sich nach den Tagzeiten richtet. Die rituellen Gebete werden unterteilt in vorgeschriebene bzw. notwendige Gebete: Diese werden fünfmal am Tag verrichtet. Die Tageszeiten der Gebete sind im Koran so festgelegt:
»Und verrichte das Gebet an den beiden Enden des Tages und zu frühen Zeiten der Nacht. Die guten Taten lassen die schlechten Taten dahinschwinden. Das ist eine Mahnung für diejenigen, die (Gottes) gedenken.« (Sure 11,114)
»Verrichte das Gebet, wenn die Sonne sich (gegen den Horizont) neigt, bis die Nacht dunkelt! Und die Rezitation des frühen Morgens! Bei ihr (sind die Engel) zugegen.« (Sure 17,78)
»Ertrage nun geduldig, was sie sagen! Und lobpreise deinen Herrn vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne! Und preise (ihn) zu gewissen Zeiten der Nacht, und an den Enden des Tages! Vielleicht bist du (dann) zufrieden (und beruhigt).« (Sure 20,130)
Vorgeschrieben sind auch das Freitagsgebet, die zwei Feiertagsgebete und das Totengebet. Die Verrichtung dieser Gebete gehört zu den Pflichten aller erwachsenen Muslim:innen. Die Sunna-Gebete sind jene, die der Gesandte Gottes verrichtet oder empfohlen hat. Sie sind freiwillig. Dazu gehören das Nachtgebet, das Gebet der Reue, das Vormittagsgebet, das Nachtgebet im Fastenmonat Ramadan und das Gebet der Preisung. In einem Hadīth sagt der Gesandte Gottes: »Gott sagt: Mein Diener nähert sich mir am besten durch seine Pflichtgebete. Falls er sich mir zudem noch mit freiwilligen Gebeten nähert, werde ich ihn (noch mehr) lieben. Und wenn ich ihn liebe, werde ich seine Ohren, Augen, Hände und Beine rechtleiten. Wenn er was von mir will, werde ich es ihm geben« (Buhārī, Kitāb al-riqaq, n. 38). Das zentralste Gebet der Muslim:innen ist die eröffnende Sure des Koran, die Sure al-Fātiha. Diese fasst die wesentlichen Aspekte des Betens in sich zusammen:
- Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Gütigen.
- Lob sei Allah, dem Herrn der Menschen in aller Welt
- dem Barmherzigen und Gütigen,
- der am Tag des Gerichts regiert!
- Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe.
- Führe uns den geraden Weg,
- den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast, und die nicht dem Zorn (Gottes) verfallen sind und nicht irregehen!« (Übersetzung Paret)
Auch die Christ:innen bejahen die Vielfalt der Gebetsformen (auch wenn es kein genaues Gegenüber zum Pflichtgebet gibt), denn sie spiegelt die Würde des vielfältigen menschlichen Lebens wider, vom Lob über die Bitte bis zur Klage. Wenn Christ:innen diese Bandbreite der Sprachformen mit muslimischen Betern teilen, so erhält das christliche Gebet durch die Integration des Zweifelns und Anklagens gegenüber Gott möglicherweise einen eigenen Akzent. Nicht zu übersehen ist jedoch die Gemeinsamkeit des Dankens, das in beiden Religionen eine der existenziellen Grundformen des Betens bildet.
In der Vielfalt der christlichen Gebetsformen ist das liturgische Gebet und insbesondere der Abendmahlsgottesdienst bzw. die Eucharistiefeier ein unumgänglicher Bezugspunkt. In ihm wird erkennbar, dass auch das liturgische christliche Beten rituell ist. Doch es gewinnt seine spezifische liturgische Gestalt durch die Auffassung, dass Gottes erlösendes Wirken erzählend und hinweisend als gegenwärtig erfahren werden kann. Erinnernde Narration und vermittelndes Zeichen sind mithin spezifische Grundstrukturen christlicher Liturgie innerhalb des Christ:innen und Muslim:innen gemeinsamen rituellen Gebetsverhaltens, in dessen beider Zentrum die Gegenwart Gottes in der Feier des Sakraments bzw. in der Schriftrezitation steht.
Gerade das liturgische Beten ist dabei leibliches Gebet, in dem die Körperhaltungen des Sitzens (Zuhören), Stehens (gemeinsames Gebet) und Kniens (persönliches Gebet) – analog zum Stehen, Verbeugen und Niederwerfen des muslimischen Gebetes – eine innere Einstellung unterstützend zum Ausdruck bringt.
Im Blick auf die Gebetsorte und die Gebetszeiten ist einerseits das zentrale Gebet der Gemeinschaft, der sonntägliche Gottesdienst, deutlich im Gegenüber zum Alltag profiliert: Der Sonntag ist anders als der Freitag Ruhetag und gliedert einen eigenen Wochenrhythmus. Seine Liturgie versteht sich in vielen kirchlichen Traditionen auch als Teilhabe an der himmlischen Liturgie und die Gebetsorte vieler Konfessionen sind sowohl architektonisch als auch durch die Kirchweihe als sakrale Orte gekennzeichnet. Es wäre an dieser Stelle durchaus ertragreich, die traditionelle Ostung vieler Kirchen, die sich symbolisch auf ein erwartetes eschatologisches Geschehen ausrichtet, theologisch mit der muslimischen Gebetsrichtung zur Kaaba zu vergleichen, die sich in konzentrischen Kreisen auf die Urgeschichte der Menschheit bezieht und in ihr Gottes Macht und Zuwendung präsent hält.
Andererseits ist das christliche Gebet des Einzelnen weniger stark vom Alltag abgegrenzt. Auch wenn natürlich enge phänomenologische Parallelen zwischen dem monastischen Stundengebet und den muslimischen Gebetszeiten, möglicherweise sogar -formen, bestehen und auch die christlichen Traditionen des Morgen-, Tisch- und Nachtgebetes, des Angelus und des Abendsegens die Tagzeiten gliedern, ist das individuelle christliche Beten weder durch die rituelle Reinheit des Körpers, der Kleidung und des Gebetsplatzes, durch die Ausrichtung und durch die explizit formulierte Absicht herausgehoben, noch ist es zentrales obligatorisches Recht Gottes gegenüber dem Menschen. Vielmehr ist es in seinen spontanen wie traditionellen vielfältigen Formen Ausdruck der Lebensgestaltung in Christus. Möglicherweise findet die Vielgestalt und mitunter Unscheinbarkeit des individuellen christlichen Gebets seinen theologischen Grund im geistgewirkten Grund des Gebets, in Jesu Priorisierung der ethischen vor den kultischen Gesetzen der Tora und in der inkarnatorischen Durchdringung aller menschlichen Wirklichkeit durch Gott. So wird ja schließlich auch das kirchliche Jahr durch die Durchdringung des natürlichen Jahreszyklus mit symbolisch-heilsgeschichtlichen Festen charakterisiert im Gegenüber zu dem konzentrierten, jahreszeitunabhängigen und durch zwei zentrale Bekenntnisinhalte bestimmten muslimischen Festkalender. Auch die Tagzeiten sind muslimisch durch rationale Zeitmessung (Sonnenstand), christlich jedoch im Kern symbolisch-heilsgeschichtlich durch den Nachvollzug der Passion geprägt.
4. Warum beten?
Das Gebet konzentriert die Bezogenheit des ganzen Lebens auf Gott und sträubt sich so gegen jede Funktionalisierung, die nicht nur Gottes Transzendenz, sondern auch die Würde und Selbstzwecklichkeit des menschlichen Lebens negierte. Das Gebet geschieht also wesentlich »um Gottes willen«. Dennoch ist das Gebet nicht grund- und auch nicht folgenlos.
Für Muslim:innen ist das Gebet der tiefste Ausdruck seines Glaubens. Im Gebet wird nämlich verdeutlicht, dass Islam »Hinwendung zu Gott« bedeutet. Jedes Gebet verstehen Muslim:innen dabei als eine persönliche spirituelle Himmelsreise. Hierzu heißt es im Koran: »Verlies, was dir von der Schrift (als Offenbarung) eingegeben worden ist! Und verrichte das Gebet! Das Gebet verbietet (zu tun), was abscheulich und verwerflich ist. Aber Gottes zu gedenken bedeutet (noch) mehr. Und Gott weiß, was ihr tut.« (Sure 29,45). Muslim:innen unterstreichen mit dem Gebet seine Demut und zeigt, dass er auf die Hilfe Gottes angewiesen ist. Dabei wenden sich Muslim:innen auch dann dem Gebet zu, wenn es ihnen gut geht. Sie beten für sich, für ihre Verwandten und auch für die gesamte Menschheit.
Aus christlicher Perspektive findet das Beten seinen Grund weniger in dem Willen und Gebot Gottes als in der Teilnahme an der Gottesbeziehung Jesu. Von hierher hat auch das Bittgebet, das leicht unter den Verdacht der Sinnlosigkeit und der Verzweckung Gottes gerät, seinen Ort: Der Bittende betet sich in der Offenheit, alles von Gott erbitten zu dürfen, in das Vertrauen Jesu auf seinen Vater hinein.
Die erhofften Folgen des Gebets verbinden Christ:innen und Muslim:innen durchaus auch in einer Kriteriologie authentischen Betens: Erhofft wird die Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie von Gott her ist, die Kraft, auch Schweres zu tragen, und das Überschreiten seiner selbst. Vor allem die letztgenannte Selbsttranszendenz formt sich in zwei Momenten aus: Das Gebet ist Abkehr und Umkehr. Als Abkehr hat jedes Beten ein kritisches Moment: Nach innen kritisiert es jede Äußerlichkeit und Heuchelei und unterscheidet Ehrfurcht von Furcht, flehentliche Bitte vom Bestellzettel, Frömmigkeit von Magie. Nach außen sensibilisiert es gegenüber allen Versuchen, anderes als Gott zu Gott zu machen. Als Umkehr erhofft sich christliches Beten über pädagogisch-erziehende Momente hinaus eine existenzielle Umwandlung, die eng mit dem christlichen Verständnis von Erlösung zusammenhängt.
Besonders in seinem kritischen Moment hat das Gebet auch eine öffentliche Funktion, die verschiedene Traditionen – vom politischen Nacht- bis hin zum multireligiösen Friedensgebet aufgreifen. Kluge Unterscheidung ist jedoch angebracht, um nicht dieses implizite Moment der Öffentlichkeitswirksamkeit zum ausschlaggebenden Grund zu machen: Sonst wird das Gebet zur Demonstration – selbst gut gemeinter christlich-islamischer Verständigung – und von dort aus schnell zur bemühten Unterrichtsstunde für die Betenden anstelle der Anrufung Gottes.
5. Gemeinsam beten?
Die theologischen Auffassungen über die Möglichkeit, gemeinsam zu beten, gehen weit auseinander. Sie reichen von der Ablehnung jeglicher Form der Gemeinsamkeit über die berühmte Formel Johannes Paul II. »Zusammensein, um zu beten« bis hin zum Verzicht auf trinitarische und christologische Gebetssprache unter Berufung auf den gemeinsamen Gott und die abrahamische Ökumene. An dieser Stelle seien nur folgende Eckpunkte festgehalten: Der Struktur christlichen Betens liefe es grundlegend zuwider, wenn eine gemeinsame Gebetssprache suggerierte, dass Christ:innen neben einem gemeinsamen »abrahamischen Gott« zusätzlich noch eine besondere, anhängliche Beziehung zu Jesus Christus hätten. Der christliche Glaube ist nicht Eingottglaube plus Jesusfrömmigkeit. Die trinitarische Form ist Strukturmoment und nicht additiv. Zugleich aber gibt die Differenz der Gebetsstruktur keinen Grund, an der Aufrichtigkeit und Ehrfurcht des muslimischen Gebets als wirklicher religiöser Haltung zu zweifeln. Wenn es aber wirkliches Gebet ist, so ist es auch in christlicher Perspektive bewirkt durch die Gnade Gottes, die beide Religionen als Grund des Gebetes bekennen. Wenn das Beten aber Gnade Gottes ist, so gibt es auch christlich eine begründete Hoffnung, dass Gott das Gebet des anderen Gläubigen als Andersgläubigen erhört. Wenn Gott es aber erhört, so wirkt der Andere durch sein Beten am Reich Gottes mit. Von hierher wird plausibel, dass die Konzilserklärung Nostra Aetate in der wachsenden Einheit unter den Menschen keine Zufälligkeit, sondern eine Realisierung des allgemeinen Heilswillen Gottes sieht. Die Suche nach angemessenen Formen der Begegnung im Gebet ist mithin kein modernistisch-synkretistischer Unfall und kein Hobby halbherziger Christ:innen, sondern ein Wirken des Geistes, die unterschiedlich Glaubenden in dem einen Heilsplan Gottes zusammenzuführen. Deshalb ist ein über den Traditionen stehendes, abstrakt-»interreligiöses« Beten aus christlicher Perspektive genauso abzuweisen wie eine Haltung, die eine erhoffte, erbetete und erfahrene Übereinstimmung in den Gebeten der jeweils eigenen Tradition ablehnt.
Gegen das Beten in interreligiöser Gemeinschaft gibt es aus muslimischer Perspektive keine Einwände. Dabei sollte allerdings zwischen den Gottesdiensten und den sonstigen Formen unterschieden werden. Wie es Gebete gibt, die sich eher für getrenntes Beten eignen, gibt es aus muslimischer Perspektive auch Gebete, die von Christ:innen und Muslim:innen gemeinsam gesprochen werden dürfen.
Das rituelle Pflichtgebet der Muslime und die christliche Feier des Abendmahls, der Eucharistie, sind Ausdruck der jeweiligen Glaubensgemeinschaft; in ihnen äußert sich ihre jeweilige Identität. Demnach ist die gemeinsame Verrichtung dieser Gebete abzulehnen. Anders ist dies jedoch bei darüber hinausgehenden religiösen Begegnungen. Hier gewinnt der Vers: »Sag: ›Ihr Leute der Schrift, kommt zu einem zwischen uns und euch gemeinsamen Wort‹« (Sure 3,64), an Bedeutung, der Christ:innen und Muslim:innen zu einem Dialog aufruft.
Zitierte Literatur
Rahner, Karl, Art. Gebet IV. Dogmatisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche (2. Aufl.), Freiburg i.Br. u.a. 1960, 542-545
Zum Weiterlesen
Lohfink, Gerhard, Beten schenkt Heimat. Theologie und Praxis christlichen Gebets, Freiburg 2010
Renz, Andreas, Beten wir alle zum gleichen Gott? Wie Juden, Christen und Muslime glauben, München 2011 (e-book)
Renz, Andreas / Schmid, Hansjörg / Sperber, Jutta (Hg.), »Im Namen Gottes …«. Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam, Regensburg 2006
Kirchliche Handreichungen
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe (Arbeitshilfe 170), Bonn 22008
Erzbistum Paderborn: Gemeinsam feiern in weiterführenden Schulen und Gemeinden. Multireligiöse Gebetstreffen der Religionen gestalten. Paderborn 2019
Arbeitsgemeinschaft Christliche Kirchen in Baden-Württemberg. Können Christen und Muslime miteinander beten? Eine Orientierungshilfe. Stuttgart 2019
Erzdiözese München und Freising: Gemeinsam vor Gott – Beten im multireligiösen Kontext. Eine Orientierungs- und Arbeitshilfe für die Bereiche Kita, Schulen und Gemeinden. München 2021
Erzbistum Köln: Gemeinsam in Vielfalt – Religiöse Feiern in heterogenen Kontexten. Handreichung zu Multireligiösen Feiern und liturgischer Gastfreundschaft in Schule und Gemeinde. Köln 2023