Einleitung
Die Frage, warum Leid existiert, wenn Gott gerecht und barmherzig ist, ist weder primär biblisch noch koranisch. Der Begriff „Theodizee“ entstammt der abendländisch-christlichen Tradition, der Philosophie der neuzeitlichen Aufklärung des G. W. Leibniz (1646–1716). Theodizee wird hier als ein Verfahren bestimmt, bei dem Gott, durch die Vernunft angeklagt, von der Urheberschaft des Bösen und der Leiden freigesprochen werden soll (wörtlich: Rechtfertigung Gottes). Auf Leibniz zurückzuführen ist auch die Unterscheidung der Übel in physische, metaphysische und moralische Übel, wie sie fortan für die Diskussion bedeutsam wird.
Doch kann es bei der Frage nach dem „Warum“ des Leids weder in christlicher noch in islamischer Perspektive allein darum gehen, die Grenzen der Vernunft und der menschlichen Freiheit ausloten zu wollen. Werden ausschließlich die Fähigkeiten des Menschen analysiert, bleibt die Frage unzureichend beantwortet. Dies gilt ebenso, wenn die Theodizee nur versucht, die Attribute Gottes zu verteidigen. Gott kann nicht durch den Menschen gerechtfertigt werden: Vielmehr geht es um eine Theodizee, die den Glauben an Gott rechtfertigt, das heißt rational verantwortet. Die zentrale Frage lautet daher: Wie ist es sinnvoll möglich, angesichts des Leids einen gerechten und barmherzigen Gott zu bekennen?
Jenseits der neuzeitlichen Engführung der Problemstellung können innerhalb der beiden religiösen Traditionen eine Vielzahl analoger Fragen und Motive sowie sich wiederholende Argumentationen und Bewältigungsstrategien ausgemacht werden, die sich zeigen, wenn glaubende Menschen ihre Leiderfahrungen vor Gott bedenken. Sowohl im Christentum als auch im Islam wurden die Leiden schon früh als „Prüfung“ oder auch als „Preis“ menschlicher Freiheit gedeutet. Wie antworten die Heiligen Schriften und welche Fragen stellen sich heutigen Gläubigen mit Blick auf die Antwortmuster? Diese Antwortmuster beider theologischer Traditionen sollen im Folgenden ins Gespräch gebracht werden. Abschließend sei erörtert, was aus dem Reichtum der je anderen Tradition geschöpft werden kann, wenn es darum geht, das Leid „sinnvoll“ zu deuten.
1. Warum gibt es Leid? Einige Antworten der christlich-theologischen Tradition
1.1 Biblisch
Es kann an dieser Stelle nicht der Versuch unternommen werden, „die“ biblische Rede von Leid, Übel und Bösem darzustellen: Das Wissen um die Diversität der Intentionen der biblischen Autoren, den Facettenreichtum ihrer Erzählungen sowie um den vielschichtigen Entstehungsprozess der Texte verbietet ein solches Unterfangen. Die biblischen Schriften erzählen immer wieder von leidenden Menschen, von Krankheit, Tod, Sünde und anderen leidvollen Widerfahrnissen. Und sie erzählen immer wieder von Menschen, die ihre Erfahrungen von Unheil und Bösem vor Gott deuten und von ihm die Wiederherstellung der Gerechtigkeit erflehen bzw. Rettung erhoffen. Innerhalb der biblischen Schriften können höchst unterschiedliche Strategien des Umgangs mit dem Bösen und den Leiden ausgemacht werden. Sie alle unternehmen den Versuch, die negativen Widerfahrnisse so zu erklären, dass der Glaube an Gottes gute Schöpfung und seinen Heilswillen aufrechterhalten werden kann.
Hierbei begegnen eine Vielzahl von Motiven und stets wiederkehrenden Deutungsmustern, zum Beispiel: Das Böse gelangt durch die menschliche Tat in Gottes gute Schöpfung, wird also als Resultat menschlicher Freiheit oder auch als Strafe Gottes gedacht. Oder: Die Erfahrung des Leids soll den Leidenden etwas lehren bzw. das Leid soll die Menschen Gott näherbringen. Oder aber es wird unterstrichen, dass die Zukunft erweisen werde, dass das Leid nicht umsonst war. Nicht zuletzt begegnet in der Vielfalt der Schriften auch der Gedanke, dass die Menschen ihrem Schicksal nicht entkommen können, wie zum Beispiel das Buch Kohelet eindrucksvoll aufzeigt. Gewiss ist diese Liste nicht vollständig. Für die christliche Theologie verbietet sich schon mit Blick auf die biblischen Schriften eine einheitliche Lesart. Exemplarisch kann auf das Motiv der Klage, wie es in den Psalmen und den Klageliedern begegnet, verwiesen werden. Das Alte Testament setzt auf Gottes Macht. Von der Erwartung eines machtvollen Eingreifen Gottes und vom Ringen mit ihm zeugen die zahlreichen Beter des Alten Testaments, die Gottes Gegenwart erbitten und erfahren.
Doch nicht immer wird Gott als der Nahe und Begleitende erfahren, es finden sich zahllose Beispiele für die Erfahrung seines Fernbleibens und Abwesendseins, die insbesondere in Form der Klage artikuliert werden. In den Klagepsalmen ebenso wie in den Klageliedern, tritt die Verbindung des Leids mit Gott in besonderer Weise hervor. In ihnen findet sich vielfach eine unvermittelte Anklage, die das erfahrene Leid mit Gott verhandelt, eine Rebellion des Menschen gegen Gott. Die Beter der Psalmen erheben das Böse und das Leid nicht zu einem theoretischen Problem; ihre Gebete entstehen aus konkreter Erfahrung, in Situationen existentieller Gefahr und Angst Einzelner oder der Gemeinschaft, aufgrund der unmittelbaren Begegnung mit dem Leiden. Gott wird hierbei als abwesend, nicht eingreifend, verborgen betrachtet, aber seine Existenz und seine Macht, das Schicksal zu wenden, werden nicht bezweifelt. Entsprechend heißt es etwa in Ps 88,2–4: „HERR, Gott meines Heils! Des Tages habe ich geschrien und des Nachts vor dir. Es komme vor dich mein Gebet! Neige dein Ohr zu meinen Schreien! Denn satt ist meine Seele vom Leiden, und mein Leben ist nahe dem Scheol.“ Eine zentrale biblische Weise des Umgangs mit dem Leid besteht darin, auf eine künftige Wiederherstellung der Gerechtigkeit zu hoffen. Auch kann als zentraler Gedanke der biblischen Sicht auf das Leid und das Böse festgehalten werden, dass die Schrift die vielgestaltigen menschlichen Nöte, Verfehlungen und Widerfahrnisse kennt. Sie kennzeichnet diese stets als Widerspruch zu Gottes Verheißungen und setzt auf die schöpferische Allmacht der Liebe Gottes. Denn der Gott der Bibel ist der Gott, der rettet und befreit, der seine Treue zugesagt hat, der die Macht hat, Veränderungen zu bewirken. Der Gott Israels ist es, den Jesus seinen Vater nennt und der sich in Christus als Liebe geoffenbart hat. Am Kreuz erweist sich dieser menschgewordene Gott als „Gott-mit-uns“ und darin als ein Gott, der den Tod überwinden kann, der das Heil aller Menschen und seiner Schöpfung will. Die an diesen Gott glaubenden Menschen suchen ihrerseits die erfahrenen Widersprüche zu deuten oder aber dort, wo dies nicht mehr gelingt, anklagend vor Gott zu bringen.
1.2 Argumente zur „Lösung“ des Theodizeeproblems
Dass das Theodizeeproblem nicht allgemein befriedigend „gelöst“ werden kann, kann als theologischer Allgemeinplatz gelten. Jede der im Folgenden skizzierten traditionellen Lösungsversuche gerät am Ende in (mindestens) eine Aporie. Ein erster Versuch, dem Übel zu entgegnen, besteht darin, das Leid zu leugnen, das heißt es entweder derart zu funktionalisieren, zu instrumentalisieren oder aber durch seine Ästhetisierung zu verharmlosen, dass es am Ende gar nicht wirklich existiert oder aber als etwas „eigentlich“ Gutes angesehen werden soll. Versuche der „Depotenzierung“ oder „Bonisierung“ des Übels begegnen, wenn gesagt wird, „etwas ist für etwas gut“, das Schlechte diene der Sichtbarmachung des Guten oder das Übel sei nur die Abwesenheit des Guten (privatio boni), es besitze keine ontologische Wirklichkeit. Entsprechend sind z.B. bestimmte geschichtliche Widerfahrnisse nicht das, als was sie uns im Moment erscheinen, sondern sie werden erst in ihren Auswirkungen als ihr Gegenteil begreifbar. Jedoch ist das Ganze der Wirkungsfolgen ein unabgeschlossener Prozess: Ob und wozu etwas gut ist, was auf dem Standpunkt der Erscheinung als Unglück erlebt wird, ist letztlich und endgültig nicht aussagbar. Und die Vertröstung, das Leid sei „für etwas anderes gut“, verbietet sich in aller Regel angesichts seiner konkreten Realität. Dient die Negativität allein als Kontrastmittel zur Sichtbarmachung des Guten, wie beim Modell der Ästhetisierung, so kommt hinzu, dass das Gute nicht um seinetwillen angestrebt wird. Das Leiden geschieht um den fragwürdigen Preis der Verehrungswürdigkeit Gottes.
Ein zweites Feld der Argumentation verteidigt den freien Willen des Menschen als von Gott geschaffen und gewollt. Der freie Wille impliziert die Freiheit zum Bösen, die Verfehlung geschöpflicher Freiheit, das heißt, das in der Welt begegnende Leiden wird in die Verantwortung des Menschen gelegt. Der Gedanke, dass das moralische Übel als formale Möglichkeit menschlicher Freiheit besteht, findet sich z.B. schon beim Kirchenvater Augustinus, jüngst aufgenommen aber auch in der sogenannten „free-will-defense“ (Richard Swinburne, Armin Kreiner u. a.). Wird aber das Leiden allein als Folge moralischer Verfehlung des Menschen verstanden, so ist es damit nicht umfassend bestimmt. Nicht jedes Übel lässt sich auf eine Verfehlung menschlicher Freiheit zurückführen.
Ein dritter Versuch, einen Ausweg aus der Theodizee zu finden, besteht darin, die Eigenschaften Gottes zu modifizieren, das heißt entweder Gottes „Güte“ oder Gottes „Macht“ nur eingeschränkt zu denken, um so die Existenz des Negativen zu erklären. Eine Selbstbeschränkung der Macht Gottes denkt z.B. Hans Jonas (Gottesbegriff), bei dem mit der Schöpfung der Welt die Allmacht Gottes endet. Gott kann also folglich nicht in die Geschehnisse der Welt eingreifen. Nur so sei Gottes Gutsein vereinbar mit der Existenz der Übel. Ein solcher Allmachtsverzicht allerdings fügt sich nur schwer zusammen mit dem Gott, von dem die biblischen Schriften zeugen. Als ebenso sperrig erweisen sich die Versuche, die Güte Gottes zu modifizieren: Indem Gott auch und gleichermaßen als Ursache des Bösen gedacht wird, wird ein Dualismus eingetragen, der die Frage nach dem Warum des Leids aber kaum beantwortet.
Eine vierte „Lösung“ besteht in der Verteidigung der Naturgesetze, Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung, die nicht verändert werden können und eben auch die natürlichen Übel hervorbringen. Hier ist Leibniz’ Gedanke der „besten aller möglichen Welten“ (vgl. auch al-Ghazālī) zu nennen, dass also keine bessere Welt als unsere von Gott ausgewählt werden konnte bzw. keine besseren Naturgesetze von ihm hätten geschaffen werden können. Auch diese Lösung wirft zahlreiche Fragen auf, vor allem ist mit ihr das Problem des physischen Übels kaum hinreichend erklärt.
Mit Blick auf die jeweiligen Grenzen der Argumentationen bleibt nur, die Frage argumentativ offen zu halten und zugleich dem Bösen und dem Leiden entschieden entgegenzuwirken. Eine solche praktische Theodizee, die jedweden Diskurs nachordnet, stellt zugleich einen weiteren, fünften Lösungsweg dar. Mit ihm wird deutlich, dass die Frage nach dem „Sinn“ des eigenen und fremden Leids – sei es gegenwärtig oder vergangen – etwas anderes ist, als nur ein logisches Widerspruchsproblem. Sie ist vielmehr eine existentielle wie konkrete Aufgabe, die alle Gläubigen angesichts der Faktizität und Widerständigkeit der Übel praktisch herausfordert.
2. Zur Frage der Theodizee im Islam
Im Koran kommt das Thema Leid an vielen Stellen vor: Manchmal wird es als nachvollziehbare natürliche Konsequenz (vgl. Sure 30,41), manchmal als göttliche Strafe für die Taten und Handlungen der Menschen (vgl. Sure 16,112) oder aber im Sinne einer Prüfung verstanden, wodurch die Menschen in ihrem wahren Menschsein und in ihrer Nähe zu Gott höhere Stufen erlangen (vgl. Sure 2,155). Diese koranischen Sichtweisen sind im theologischen Diskurs unter anderen Prämissen wiederzufinden.
Die Theodizeefrage stellt sich in der islamischen Theologie bzw. im Kalām (Summe der Glaubenslehren und Prinzipien im Islam, die sich auf rationale Argumente stützen) im Zusammenhang mit der Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit. Obwohl sich alle Muslim:innen darüber einig sind, dass die Gerechtigkeit eines der göttlichen Attribute ist, besitzt die göttliche Gerechtigkeit in der theologischen Diskussion einen unterschiedlichen Stellenwert und ist bei einigen Schulen (Muʽtaziliten und Schiiten) ein zentrales Glaubensprinzip, während sie bei anderen Schulen (Aschʽariten, Maturiditen, Kharidschiten) von sekundärer Bedeutung ist. Diese unterschiedliche Relevanz und Prägung kann sowohl ideenhistorisch wie auch systematisch zusammenhängend mit den Prämissen und Argumentationsstrukturen jedes Schuldiskurses nachvollzogen werden.
Die Frage nach dem Wesen bzw. den Kategorien des „Guten“ und „Schlechten“, ob diese rational oder nur durch Offenbarung zu erkennen sind, ist bei allen Kalām-Schulen im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit entscheidend. Die Aschʽariten vertreten die Meinung, dass alles, was als Gottes Tat und Befehl gilt, gut ist. Die Taten und Befehle sind nicht per se gut oder schlecht und als solche vom menschlichen Intellekt erkennbar, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass sie von Gott stammen. Die koranische Offenbarung und die prophetische Überlieferung allein sind für die Aschʽariten entscheidend bei der Erkenntnis, ob diese oder jene Handlung gut oder schlecht ist. Hingegen lehnen die Muʽtaziliten diese Reduzierung der Erkenntnis auf die Offenbarung ab. Sie vertreten die Meinung, dass durch den Intellekt das Gute und auch das Schlechte als solches erkennbar sind. Gott wird von den Muʽtaziliten in seinem Wesen und seinen Attributen bzw. Handlungen über alles Schlechte erhoben. Gottes absolute Vollkommenheit und Einheit werden hiermit zu bewahren gesucht. Ungerechtigkeit darf Gott nicht zugeschrieben werden, weil diese zur Gerechtigkeit als Gottes Attribut in Widerspruch steht. Gerechte bzw. ungerechte Handlungen und Taten sind an sich erkennbar, egal ob diese von Gläubigen oder Nichtgläubigen stammen. Nach der Ansicht der Muʽtaziliten ist die Gerechtigkeit eine vernünftige Tatsache, von der die Verhältnismäßigkeiten in der Schöpfung geprägt sind. Göttliche Gerechtigkeit ist aus muʽtazilitischer Perspektive mit der göttlichen Weisheit gleichzusetzen. Gottes Wille und Handlungen sind nicht durch eine Willkür oder einen Nihilismus geprägt, sondern durch seine absolute reine Vollkommenheit, welche der gesamten Schöpfung ihre Existenz verleiht. Der Mensch als Gottes Geschöpf wird in seinen Fähigkeiten zur Erkenntnis und freien Entscheidung von der Maxime der Vollkommenheit geleitet. Dass der Mensch einen freien Willen besitzt und für seine Handlungen die Verantwortung bzw. die Konsequenzen zu tragen hat, entspricht der göttlichen Gerechtigkeit bzw. Weisheit als Schöpfungsprinzip.
In diesem Sinne wird z.B. von Nasr Hāmid Abū Zaid (gest. 2010) festgestellt, dass der Begriff Gerechtigkeit etymologisch in verschiedenen Symbolen, Variationen und Ableitungen im Koran verwendet wird. In Sure 55,3–8 wird der Begriff Gerechtigkeit kosmologisch ausgelegt: „Er hat den Menschen geschaffen, Er hat ihn gelehrt (einen Sachverhalt) darzulegen, die Sonne und der Mond sind Gesetzen unterworfen. Und die Sterne und Bäume fallen (in Anbetung vor ihm) nieder, und den Himmel hat er emporgehoben. Und er hat die Waage aufgestellt, damit ihr die Waage der Gerechtigkeit nicht überschreitet“ (Übersetzung Abdeljelil). Durch die Gerechtigkeit sind die gesamte Schöpfung, Mensch und Natur bestimmt. Gerechtigkeit könnte hier also als Synonym für das kosmologische Gleichgewicht, die Gesetzmäßigkeit und die Harmonie stehen. Der Mensch hat die Pflicht, sich in diese Harmonie der Schöpfung einzubetten, dem Gleichgewicht zuzugehören und dieses nicht zu zerstören. Ungerechtigkeit bedeutet, in diese harmonische Gesetzmäßigkeit der Natur zerstörerisch einzugreifen.
An einer weiteren Stelle im Koran wird auf die gefährlichen Konsequenzen der ungerechten Taten Bezug genommen und auf die Natur deutlich hingewiesen. So heißt es in Sure 30,41: „Unheil ist auf dem Festland und auf dem Meer sichtbar geworden für das, was die Hände der Menschen begangen haben, Gott wollte sie (auf diese Weise) etwas von dem spüren lassen, was sie getan hatten, damit sie sich vielleicht bekehren würden.“ Hier sind zwei Aspekte zu beachten: Erstens, dass die ungerechten Taten der Menschen bzw. die Zerstörung der harmonischen Gesetzmäßigkeit und des Gleichgewichtes der Natur konsequenterweise zu Unheil und Katastrophen führen. Zweitens, dass der Mensch diese Konsequenzen tragen und die Verantwortung für seine Taten – die sich als Unheil und Katastrophen auf sein Leben auswirken werden – übernehmen muss.
Weiterhin ist mit dem iranischen Gelehrten Mortaza Motahhari (1920– 1979) darauf zu verweisen, dass man – um die Schöpfung besser zu verstehen und die Ereignisse in der Welt besser beurteilen zu können – bei seinen Überlegungen unbedingt die Einheit der Schöpfung zu berücksichtigen habe. Eine isolierte Betrachtung der Dinge führe zwangsläufig zur Sinnlosigkeit und stoße auf Unverständnis und Ablehnung. In gewisser Hinsicht könne man die Schöpfung mit einem Zug vergleichen, der über viele Stationen auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Alle Teile, aus denen der Zug gebaut worden ist, sind so geformt und angelegt, dass die Funktion des Zuges gewährleistet ist. Jeder einzelne Teil hat eine eigene spezielle Aufgabe, welche in Verbindung mit anderen Teilen die Funktion des Zuges ergibt. Auf diese Weise bekommen auch die einzelnen Teile ihre Existenzberechtigung, weil sie einen Nutzen haben und einen Zweck in der Gemeinschaft erfüllen.
Fazit
Der Problemkontext der Theodizee verbindet sich innerhalb von Christentum und Islam mit höchst divergenten Fragezusammenhängen und philosophischen Traditionen. Während die klassische islamische Theologie das Thema im Zusammenhang mit dem Konzept der göttlichen Gerechtigkeit verhandelt, bricht in der christlichen Theologie immer wieder die Frage nach dem „Warum?“ des Leids hervor. Zugleich gibt es bei der Deutung leidvoller Erfahrungen von Menschen durchaus identische Antwortmuster, wenn z. B. das Leiden als Prüfung, Preis der Freiheit oder wertvolle Erfahrung, die der Reifung des Menschen dient, gedeutet, also als von Gott her kommend positiv qualifiziert wird, so dass auf den stets Größeren, der am Ende alles ins Recht setzen wird, gehofft werden kann und eine gläubige Annahme des Leids möglich wird. Und doch ist das christlich-muslimische Gespräch über die Fragekreise der Theodizee im Kontext der vielgestaltigen Moderne erst am Anfang und bietet für beide Seiten neue Herausforderungen.
Zum Weiterlesen
Kermani, Navid, Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005
Renz, Andreas/Schmid, Hansjörg/Sperber, Jutta/Takım, Abdullah (Hg.), Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg 2008
Middelbeck-Varwick, Anja, Die Grenze zwischen Gott und Menschen. Erkundungen zur Theodizee in Christentum und Islam, Münster 2009
Loichinger, Alexander / Kreiner, Armin (Hg.), Theodizee in den Weltreligionen. Ein Studienbuch, Paderborn 2010
Stosch, Klaus von, Theodizee, Paderborn 2013