1. Allgemeines Verständnis von Ethik und die Besonderheiten religiöser Ethik
Ethik bezeichnet seit der griechischen Antike die Reflexion über Handeln und Lebensführung des Menschen. Religiöse Ethik findet im Sinnhorizont des Glaubens statt und baut auf einer je spezifischen Anthropologie auf. Für die Ethik sind die beiden Unterscheidungen gut – böse und gerecht – ungerecht zentral. Christliche und islamische Ethik haben ein gemeinsames formales ethisches Prinzip: Das Gute tun, das Böse meiden, so heißt es in der christlichen scholastischen Tradition. Im Koran ergeht die Aufforderung, »zum Guten zu rufen, das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu untersagen« (Sure 3,104). Islamische wie christliche Ethik sind als theologische Ethik in der existentiellen Beziehung zu dem einen Gott verankert, die in beiden Religionen unterschiedlich ausgestaltet ist. Über eine rein philosophische Ethik hinaus umfasst religiöse Ethik daher weitere Dimensionen wie bestimmte Grundhaltungen und Motivationen, Wege zum Umgang mit Scheitern und einen Transzendenzbezug.
Es gibt weder die islamische noch die christliche Ethik, sondern jeweils eine Vielfalt unterschiedlicher Positionen. Dies gebietet eine Zurückhaltung hinsichtlich des Geltungsanspruchs und der Reichweite von Ergebnissen des interreligiösen Dialogs. In beiden Religionen werden nebeneinander stärker glaubensethische und stärker vernunftorientierte Konzepte von Ethik vertreten: Schlüsselfrage ist dabei das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Rationalistische Positionen, die im Islam von der mu‛tazilitischen Schule seit dem 8. Jahrhundert entwickelt wurden, weisen der Offenbarung keine Ethik begründende Funktion zu, sondern die Aufgabe, ethische Prinzipien zu entfalten und zu spezifizieren. Die asch‛aritische Gegenposition sieht Pflichten erst durch die Offenbarung gegeben, auch wenn religiöses Wissen über die Vernunft zugänglich ist.
In der katholischen Ethik ist die Konzeption einer autonomen, von christlichen Glaubensvoraussetzungen unabhängigen universalen Moral weit verbreitet. Diese wird allerdings nicht als Gegensatz zur Bezogenheit des Menschen auf Gott angesehen, was sich im Begriff »theonome Autonomie« (Franz Böckle) niederschlägt. Spezifisch christlich ist der durch Jesus Christus eröffnete Sinnhorizont für das menschliche Handeln. Aus evangelischer Sicht spielt der Rekurs auf die Bibel eine stärkere Rolle. Bei weniger stark normativen Ansätzen geht es um ein Verstehen der sich aus dem christlichen Glauben ergebenden Lebensweise. In der evangelischen Ethik werden stärker als in der katholischen Ethik die individuelle Verantwortung und Freiheit und damit verbunden ein Pluralismus in der Ethik akzentuiert.
2. Die Orientierungsfunktion von christlicher und islamischer Ethik
Probleme der Gesellschaft und Entscheidungsfragen des Einzelnen rufen nach ethischer Orientierung. In den modernen pluralistischen Gesellschaften kann nicht mehr von homogenen religiösen Milieus ausgegangen werden, in denen jeweils ein bestimmtes religiöses Ethos gelebt wird und in welche die einzelnen Menschen hineinwachsen. Ethik ist in hohem Maße individualisiert. Dem stehen Religionen wie Islam und Christentum mit ihrem gemeinschaftlichen Charakter entgegen. Die Orientierungsfunktion von religiöser Ethik für das Individuum ist je verschieden strukturiert:
a) Für die christliche Ethik ist die frei gewählte und je individuell realisierte Ausrichtung an Jesus Christus als Vorbild des Handelns zentral. Prägend ist seine Hinwendung zu den Unterprivilegierten der Gesellschaft, seine Gesetzeskritik, das Liebesgebot (Mk 12,29–31) und das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44). Die Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi entsprechend zu den von ihm berufenen Jüngern befähigt zu einem altruistischen Lebensstil, zur Annahme von Leid und zur Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes.
In der Tradition christlicher Ethik wird das Gewissen zur letztverbindlichen Instanz verantwortlichen Handelns. Nach Paulus (Röm 2,14f) und dann unter Aufnahme stoischer Ideen wird das Gewissen als das ins Herz des Menschen geschriebene Gesetz, das Gute zu tun, verstanden, mit dem der Mensch sich selbst beurteilt und richtet. Damit gewinnt die individuelle Urteilskompetenz, die auch durch variable Größen wie Kontext und Erziehung geprägt ist, einen zentralen Stellenwert. Aus christlicher Sicht sind durch das Gewissen alle Menschen über Grenzen von Religionen und Überzeugungen hinweg miteinander verbunden.
Die Kirche als Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft bietet einen Raum für die Suche nach ethischen Antworten. Das Spannungsfeld zwischen individueller Entscheidung und institutionellem Rahmen ist unauflöslich. So kann Kirche sowohl als einengend als auch Horizonte eröffnend erfahren werden. Hier kommt es vor allem in der katholischen Kirche zu Konflikten, die dem kirchlichen Lehramt einen zentralen Stellenwert einräumt. Das wirkt sich auch auf die wissenschaftliche christliche Ethik aus: Sie nimmt auf das kirchliche Lehramt Bezug, versteht sich aber nicht nur als Auslegung der lehramtlichen Positionen.
b) Die islamische Ethik ist neben dem Koran vor allem an der Sunna des Propheten ausgerichtet und bietet damit dem Gläubigen eine Orientierungshilfe für sein Handeln. Diese Hilfe erstreckt sich dabei auf alle Lebensbereiche, denn mit dem Koran ist dem Menschen eine Lebensordnung gegeben, die durch die Sunna, also durch die Lebensweise des Propheten, beschrieben und vervollständigt wird.
Verantwortliches Handeln, sei es gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen, sei es gegenüber Umwelt oder Technik, wird dabei mit Hilfe von Regeln sichergestellt. Dieses Regelsystem, abgeleitet aus Koran und Sunna, bildet die Basis der Scharia. Fälle, die nicht direkt aus Koran und Sunna abgeleitet werden können, werden durch den Konsens der islamischen Gelehrten geregelt. Ist dies auch nicht möglich, so bleibt den Gelehrten die Möglichkeit, gelöste Fälle durch Analogieschluss auf ungelöste zu übertragen. Daneben können islamische Rechtsgelehrte (Muftis) Rechtsgutachten (Fatwas) herausgeben, die aufgrund der pluralen Autoritätsstrukturen im Islam durchaus konträr zu anderen Urteilen stehen können. Je mehr Autorität der Mufti besitzt, umso mehr Einfluss hat die Fatwa. Dennoch bleibt im Islam auch das Gewissen des Menschen die letzte Entscheidungsinstanz. Dies leiten die muslimischen Gelehrten aus dem Ausspruch des Propheten Muhammad »Frage zuletzt dein Herz nach einer Fatwa« ab (Abū Bakr Ibn Abī Šayba: Musnad Ibn Abī Šayba. Hn: 753).
Der Gläubige ist demnach von einem gemeinschaftlichen Rahmen umgeben, der ihm zum einen Sicherheit bietet, zum anderen aber auch zu Spannungen zwischen der eigenen Entscheidungskompetenz und der Autorität von Rechtsgelehrten führen kann. Reformorientierte Muslim:innen sind bestrebt, mit Hilfe von eigenständiger Urteilsbildung eine undogmatische, vernunftgeleitete Denkweise durchzusetzen. Andere Muslim:innen argumentieren dagegen, dass diese Rechtsmethode, also eine unabhängige Interpretation von Koran und Sunna, nur von Gelehrten des islamischen Rechts angewandt werden kann, da nur diese das dafür nötige Wissen besitzen.
3. Die unterschiedliche Verortung von Ethik in der islamischen und christlichen Theologie
Es wurde bereits deutlich, dass sich Glaube und Ethik nicht voneinander isolieren lassen. In beiden Religionen finden sich ethische Reflexionen in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen und Disziplinen, die angesichts von Herausforderungen der Moderne eine Neuausrichtung erfahren, aber auch von je unterschiedlichen philosophischen Diskussionen und kulturellen Kontexten geprägt sind:
a) Im Islam spielen Koran, Hadīth, philosophische, rechtliche, mystische und theologische Traditionen eine wichtige Rolle (vgl. Fakhry 1994). Als Entsprechung zu »Ethik« wird meist akhlāq angeführt. Dabei geht es um philosophische Fragen der Charakterlehre mit Themen wie Lastern, Tugenden, guter Charakter und die moralische Verfasstheit der Seele. Daneben werden ethische Fragen häufig im Rahmen des islamischen »Rechts« behandelt, das sich zur dominanten Disziplin islamischer Wissenschaften entwickelt hat und das im weiteren Sinne von islamischer Normativität zu verstehen ist. In gegenwärtigen Diskursen zeigt sich eine Verschiebung von einer kasuistischen Rechtspraxis hin zu einer Prinzipienorientierung. Leitende Intentionen und Prinzipien der Scharia wie etwa der Schutz des Lebens, treten gegenüber Einzelnormen in den Vordergrund. In der Ausrichtung auf maslaha im Sinne von »allgemeinem Wohl« gewinnt die islamische Ethik einen zweckorientierten Charakter. Außerdem wird der ethische Grundzug des islamischen Rechts stärker herausgearbeitet und die Vielfalt islamischer Disziplinen betont. Die genaue Verortung ethischer Fragen im Kontext der im Aufbau befindlichen islamischen Theologie in Deutschland ist noch offen.
b) Auch die christliche Ethik weist rechtliche Züge auf. So wurde seit dem Hochmittelalter Gott als Gesetzgeber betrachtet, der ethische Normen als seine Gesetze erlässt und Gesetzesübertretungen bestraft. Wie im Islam finden sich Überlegungen zum tugendhaften Leben in allen Epochen der Theologiegeschichte. Im Kontext von Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Konfessionen insbesondere bezüglich der Bußpraxis entstand im 16. Jahrhundert die zunächst stark fallorientiert ausgerichtete Moraltheologie als eigenständige, von der Glaubenslehre getrennte theologische Disziplin. Die Betonung der Autonomie des Sittlichen, die Forderung der Universalisierbarkeit und die Kritik an legalistischer Ethik durch Immanuel Kant prägten die Diskussionen innerhalb der Moraltheologie. Eine weitere Ausdifferenzierung fand seit Ende des 19. Jahrhunderts statt: So entstand neben der stärker auf individuelle Lebensformen ausgerichteten Moraltheologie die Sozialethik als Reflexion über Strukturen und Institutionen der Moderne. Heute orientiert sich christliche Ethik (häufig unter der Bezeichnung »theologische Ethik«) stark an zeitgenössischer philosophischer Ethik und Humanwissenschaften (vgl. Düwell/Hübenthal/Werner 2011).
4. Die ethische Relevanz von Bibel und Koran
In beiden Religionen sind die jeweiligen Schriften mit einem jeweils unterschiedlichen dogmatischen Status zentrale Bezugspunkte für die theologische Reflexion (▸ Gottes Wort in der Geschichte: Bibel und Koran). Der zeitliche und kulturelle Abstand stellt den Rekurs auf Koran und Bibel vor entsprechende hermeneutische Anforderungen: Die heiligen Schriften können nicht als Steinbruch für ethische Normen benutzt werden. Vielmehr muss der geschichtliche Kontext der Texte berücksichtigt werden. Für die Schriftrezeption werden verschiedene hermeneutische Modelle vertreten, wie etwa ein Gespräch, in dem unterschiedliche kontextuelle und kulturelle Prägungen berücksichtigt werden können. Eine andere Möglichkeit ist, aus Schrifttexten übergreifende Prinzipien herauszuarbeiten (vgl. etwa Anzenbacher 1998, 29; Rahman 1982, 20) wie Aussagen über die Armen, die Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, die wiederum in heutige ethische Argumentationen einfließen können.
In Bezug auf die Bibel spielt die Pluralität unterschiedlicher Textgattungen und ethischer Positionen eine wichtige Rolle: Das Alte Testament umfasst rechtliche Vorschriften der Tora, Kritiken an Kult und gesellschaftlichen Missständen sowie den Ruf nach Gerechtigkeit der Propheten und die schöpfungstheologisch geprägte Weisheitsliteratur. Ethische Weisungen der Bibel haben vielfach außerbiblische Parallelen, die in den biblischen Schriften in einen neuen Kontext gestellt werden (vgl. z. B. Phil 2,14; Gal 5,1.13). Biblische Texte können nicht als losgelöste Gebote verstanden werden; sie sind mit einer spezifischen Heilserfahrung verbunden – im Alten Testament mit der Befreiungserfahrung des Volkes Gottes, im Neuen Testament mit der Reich-Gottes-Botschaft und dem Christusglauben. Wichtige ethische Texte haben eine narrative Gestalt – so etwa das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,15–37) oder die Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46). Durch existentielle Lektüren und Identifikationen mit Gestalten dieser Texte werden die Leser zu ethischem Verhalten motiviert. Innerhalb des biblischen Kanons können sich Leser unterschiedlich orientieren: So ist die Offenbarung des Johannes (Offb) von Weltdistanz geprägt, während die Pastoralbriefe (1 Tim, 2 Tim, Tit) eine weitgehende Angleichung an die Welt propagieren. Einen Mittelweg geht der 1. Petrusbrief, der die Christen als »Fremde und Gäste« bezeichnet (1 Petr 2,11). Von daher gibt die Bibel keine direkten Antworten auf aktuelle ethische Fragen.
Beim Koran muss man zwischen den mekkanischen und den medinensischen Suren unterscheiden. Die mekkanischen Suren sind eher durch dogmatische Fragen geprägt. Sie setzen sich mit dem Monotheismus auseinander und proklamieren den Verzicht auf Polytheismus. Gleichzeitig berichten sie aber auch von früheren Propheten und Völkern und greifen dabei auf Erzählungen zurück, die auch im Alten und Neuen Testament zu finden sind. Die Menschen sollten durch Erinnerung und Ermahnung an die vergangenen Propheten und Völker Analogien zu ihren eigenen Lebensverhältnissen bilden und dadurch zu einer ethischen Lebensweise angehalten werden. Die medinensischen Suren stammen aus der Zeit nach der Hidschra (622 n.Chr.). Sie behandeln nun stärker die Ordnung der Umma und setzen sich mit ethischen Fragen auseinander, unter anderem mit Ehe und Familie sowie mit der Beziehung der Umma zu anderen Menschen und Religionen.
Eine Möglichkeit des Dialogs ist eine intertextuelle Lektüre zentraler ethischer Texte. So findet sich der biblische Dekalog (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21) auch in koranischer Form (Sure 6,151–153; 17,22–39). Im »Buch der vierzig Hadithe an-Nawawīs« findet sich eine Parallele zur Goldenen Regel (Mt 7,12): »Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht« (al-Nawawī 1997, 108).
5. Verantwortung als Schlüsselbegriff einer Ethik in der Moderne
Die europäische Moderne ist dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliche Ordnungen nicht mehr absolut vorgegeben, sondern ständige Gestaltungsaufgabe sind. In beiden Religionen findet inzwischen eine positive Rezeption von Säkularisierung statt. Christ:innen und Muslim:innen können sich konstruktiv mit den Errungenschaften der Moderne auseinandersetzen und in Zusammenarbeit Beiträge zu gesellschaftlichen Fragen leisten. Die heutige Zeit macht deutlich, dass Appelle an das moralische Handeln des Einzelnen nicht ausreichen, sondern eine ethische Reflexion über Systeme, Strukturen und Institutionen erforderlich ist. Die von unterschiedlichen Kulturen und Religionen her anschlussfähigen universellen Menschenrechte können hierbei als übergreifender Maßstab dienen.
Im 20. Jahrhundert wurde Verantwortung zu einer »ethischen Schlüsselkategorie« (Kurt Bayertz). Verantwortung (mas‛ūlīya) markiert Grenzen für das menschliche Handeln und bringt besonders die Zukunftsdimension des Handelns zum Ausdruck. Ausgerichtet wird die Verantwortung an Maßstäben und Kriterien; hier lässt sich an oberster Stelle die Menschenwürde nennen (▸ Leben in Freiheit und Würde: Menschenrechte). Verantwortung setzt freie, zurechnungsfähige Subjekte als ihre Träger voraus und umfasst gleichzeitig Bewusstsein für Werte, die heute nicht mehr als selbstverständliche Vorgaben gelten können. Aus religiöser Sicht handelt es sich dabei um eine Verantwortung vor Gott, der von Muslim:innen und Christ:innen als Schöpfer der Welt und endzeitlicher Richter bekannt wird. Die göttliche Verantwortungsinstanz wird im Gewissen und durch die Vernunft des Menschen greifbar. In beiden Religionen ist eine Verschiebung von einer stärker formalen Pflichterfüllung hin zur persönlichen Verantwortung mit einem Bewusstsein für die ethischen Grundlagen und für die Folgen der Handlungen zu beobachten. Somit eignet sich Verantwortung als gemeinsame ethische Leitidee, welche die Grundstruktur religiöser Ethik und konkrete Handlungsfelder miteinander verbindet (vgl. Schmid/Renz/Takım/Ucar 2008).
6. AusgewählteVerantwortungsbereiche: Biomedizin, Wirtschaft, Umwelt
Verantwortung wird in verschiedenen Handlungsfeldern konkret. Angesichts der neuzeitlichen Differenzierung von Sachbereichen ist eine Vielfalt von Bereichsethiken entstanden, für die jeweils unterschiedliche Einzelwissenschaften relevant sind. Hierbei wird deutlich, dass Ethik nur interdisziplinär betrieben werden kann (vgl. Ramadan 2009). Die Bereichsethiken als relativ eigenständige Diskussionszusammenhänge, die ein hohes Maß an Spezialisierung verlangen, sind durch die ethische Reflexion miteinander verbunden. Exemplarisch sollen hier Verantwortungsbereiche vorgestellt werden, die für beide Religionen relevant, vielfach aber erst in Ansätzen Gegenstand christlich-islamischer Dialoge sind:
a) Bio- und Medizinethik: Die Bio- und Medizinethik hat zum Ziel, eine ethische Grundlage für einen verantwortungsvollen Umgang mit Leben zu entwickeln. Neben der Tier- und Pflanzenethik ist hier insbesondere die Ethik in Bezug auf den Menschen von großer Bedeutung. Vor allem die der Bioethik zugeordnete Reproduktionsmedizin (Präimplantations- und Pränataldiagnostik, Gentechnologie, Stammzellenforschung), aber auch Fragen zur Medizinethik wie etwa Sterbehilfe und Organtransplantation stehen im Mittelpunkt der Diskussionen. Zentral ist dabei die Frage nach dem Lebensbeginn und Lebensende. In der christlichen und islamischen Bioethik spielen vor allem die Bewertung des Status des Embryos und dabei besonders der Zeitpunkt der Beseelung eine entscheidende Rolle. So ist die katholische Kirche der Ansicht, dass schon der Embryo eine Seele besitzt und deshalb in allen Entwicklungsphasen ein Recht auf Lebensschutz und Menschenwürde hat. Damit sind alle Eingriffe auch im frühen Stadium der Schwangerschaft, sowie die embryonale Stammzellenforschung ausgeschlossen, auch wenn dadurch anderen Menschen geholfen werden könnte. Anders als die evangelische Kirche steht sie auch der künstlichen Befruchtung kritisch gegenüber. Konträr zur katholischen Position stehen muslimische Positionen, die neben der künstlichen Befruchtung auch einen Schwangerschaftsabbruch und die Stammzellenforschung bis zum Tag der Beseelung erlauben, die je nach Lehrmeinung auf den 40. oder 120. Tag der Schwangerschaft angesetzt ist. Eine Problematik innerhalb der Reproduktionsmedizin stellt für den Islam dabei nicht die Unterminierung der Würde dar, sondern die biologischen und sozialen Konsequenzen, die beispielsweise beim Klonen durch die Veränderung im Familienstammbaum, aber auch durch die daraus resultierende Dezimierung der kulturellen Vielfalt hervorgerufen werden können.
In der Medizinethik wird vor allem die Frage nach dem Lebensende diskutiert. So etwa bei der Organtransplantation nach dem Tod, die automatisch eine Auseinandersetzung mit dem Hirntodkriterium mit sich bringt. Im Islam gilt ein Mensch als tot, sobald die Seele seinen Körper verlässt (Sure 39,42). Diese Definition hat zu kontroversen innerislamischen Diskussionen geführt, da medizinisch nicht feststellbar ist, ob die Seele mit dem Hirntod den Körper verlässt. Aus diesem Grund tut man sich, anders als mit der Organtransplantation, mit der Anerkennung des Hirntodkriteriums teilweise schwer. Der Organtransplantation steht der Islam durchaus positiv gegenüber, da jeder aussichtsreiche Versuch Leben zu retten oder den Gesundheitszustand zu verbessern als moralische Pflicht angesehen wird (Sure 35,5). Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche erkennen das Hirntodkriterium an und befürworten die Organtransplantation. Letzteres gilt sogar als ein Akt der Nächstenliebe, da Lebensrettung moralisch geboten ist.
b) Wirtschafts- und Umweltethik: Beide Religionen sind grundsätzlich wirtschaftsfreundlich ausgerichtet. Allerdings ist Wirtschaft kein Selbstzweck, sondern dem Kriterium der Lebensdienlichkeit unterstellt. Eigentum ist relativ, da Gott der eigentliche Besitzer ist, was den Menschen zu einem verantwortungsvollen, treuhänderischen Umgang mit allen Gütern verpflichtet. Soziale Anliegen kommen im Islam durch die Almosensteuer (zakāt) zum Ausdruck, die eine Umverteilung von Gütern bezweckt. Die biblische Tradition des Sabbats bedeutet eine Unterbrechung der ökonomischen Logik.
Im Zentrum wirtschaftsethischer Diskussionen im Islam steht das Verbot von ribā – meist übersetzt als (Wucher-)Zins –, das in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt Beachtung findet (Sure 2,275f). Im Christentum wurde ab dem 16. Jahrhundert im Rahmen einer neuzeitlichen Ausdifferenzierung von Ökonomie und Religion nicht mehr oder nur eingeschränkt am Zinsverbot festgehalten. Zinsen sind heute nicht mehr wie in stagnierenden Wirtschaften mit der Ausbeutung Mittelloser gleichzusetzen, sondern die notwendige Voraussetzung für einen Kapitalmarkt und damit für Wirtschaftswachstum. Kritisch ist hingegen die Entkoppelung des Finanzwesens von der Realwirtschaft zu betrachten, wenn Banken z. B. ihnen anvertrautes Kapital für nicht werthaltige Wettgeschäfte missbrauchen und damit den Wirtschaftskreislauf auf Kosten der Allgemeinheit gefährden oder gar schädigen. Das Zinsverbot bedarf in diesem Kontext einer neuen Konkretisierung. Ein Ansatz könnte darin bestehen, die in beiden Religionen zugrunde liegenden Prinzipien wie die Option für die Schwachen, Solidarität und Gerechtigkeit in ihren vielfältigen Dimensionen miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die ökologische Krise gehört zu den zentralen Herausforderungen der Gegenwart. Sie ist als Folge wirtschaftlicher Entwicklungen die Kehrseite der Moderne und führt zur Zerstörung der ökologischen Grundlagen ihrer Entwicklung. Christ:innen und Muslim:innen können hier gemeinsam schöpfungstheologisch argumentieren. Sie verstehen die Welt als zu bewahrende Schöpfung Gottes. Darin hat der Mensch als Ebenbild bzw. Statthalter Gottes eine herausragende Stellung, die eine besondere Würde und Aufgabe des Menschen zur Folge hat, aber auch im Sinne von Herrschen und Ausbeuten missverstanden wurde. Heute werden Ansätze vertreten, die mit unterschiedlichen Gewichtungen Anthropozentrismus und Biozentrismus miteinander verbinden. Islamische und christliche Denker sprechen von nachhaltiger Entwicklung, stellen sich damit einem reinen Neoliberalismus entgegen und finden im Modell einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft eine gemeinsame Zielperspektive.
Man könnte zunächst vermuten, dass in der Umweltfrage leicht ein interreligiöser Konsens gefunden werden kann. Auch hier bricht jedoch der Grundkonflikt auf, wie die Moderne zu bewerten ist, und bisweilen kehren in einer ökologischen Verkleidung antimoderne Reflexe wieder. Nachdem inzwischen auch eine islamisch motivierte Umweltbewegung entstanden ist, bieten sich gerade in diesem Feld Handlungsmöglichkeiten für den praktischen interreligiösen Dialog (vgl. Binay/Khorchide 2019).
7. Zur Bedeutung ethischer Fragen für den interreligiösen Dialog und für das gesellschaftliche Zusammenleben
Angesichts von Migration, Globalisierung und Pluralisierung stellen sich neue Herausforderungen für die Ethik. Wie ist das Zusammenleben angesichts divergierender Konzeptionen des guten Lebens möglich? Hierbei spielt der interreligiöse Dialog eine zentrale Rolle, denn in ihm kann Konsens gefunden und ein Verständnis für Differenzen geweckt werden. Verschiedene ethische Positionen bewegen sich in säkularen Kontexten im vom staatlichen Recht vorgegebenen Rahmen. Auch wenn Recht und Ethik getrennt sind, ist das Recht wiederum auf ein ethisches Fundament angewiesen, zu welchem in pluralistischen Gesellschaften unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen beitragen können. Dafür bedarf es nach Ansicht von Jürgen Habermas in einer postsäkularen Gesellschaft der Übersetzung religiöser Aussagen in eine vernunftbasierte Sprache (vgl. Habermas 2005, 137f).
Dokumente wie die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate (1965), die Erklärung »Striving Together in Dialogue. A Muslim-Christian Call to Reflection and Action« (2000) des Ökumenischen Rates der Kirchen (www.oikoumene.org), das von 138 muslimischen Gelehrten unterzeichnete Dokument aus dem Jahr 2007 »A Common Word Between Us and You« oder das 2012 von Muslim:innen und Christ:innen im Rahmen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gemeinsam verfasste Dokument »Christen und Muslime – Partner in der pluralistischen Gesellschaft« geben wichtige Anregungen für einen interreligiösen Dialog über ethische Fragen. Auch das Dokument von Abu Dhabi „Über die Brüderlichkeit aller Menschen“ (2019) enthält viele weiterführende Impulse.
Exemplarisch sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, die eine Brücke zwischen wissenschaftlich-ethischen und praktischen Fragen schlagen:
a) Projekt Weltethos: Angesichts weltweiter Krisen hält Hans Küng eine globale Ethik für erforderlich. Das Weltethos selbst formuliert Küng derart allgemein, dass es für alle Menschen unabhängig von ihrer Religion zugänglich ist. Der Ansatz ist konsensorientiert. Zentrales inhaltliches Kriterium ist das Humanum, das von verschiedenen Weltreligionen her begründbar ist. Das Projekt Weltethos hat für die Praxis des interreligiösen Dialogs wichtige Anstöße gegeben. Es bleibt jedoch unklar, wieso es zusätzlich zu den Menschenrechten eine Weltethos-Erklärung braucht. Angesichts der Pluralität der Religionen und ihrer inneren Vielstimmigkeit geraten rein konsensorientierte Ansätze an ihre Grenzen.
b) Interkulturelle bzw. interreligiöse Ethik und Sozialethik (Karl-Wilhelm Merks, Hansjörg Schmid): Ausgangspunkt ist die kulturelle bzw. religiöse Vielfalt. Anstelle einer globalen Rahmentheorie geht es hier um die Auseinandersetzung mit Einzelfragen. Methodisch lässt sich idealtypisch in drei Schritten vorgehen: Zu Beginn steht eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Kontext und Sachfragen, die von unterschiedlichen Disziplinen bearbeitet werden; es folgt im Sinne eines hermeneutischen Prozesses ein Bezug auf Prinzipien und religiöse Quellen; daraus geht ein Handlungsangebot hervor. Ein universales Ethos wird somit hier nicht vorausgesetzt, sondern kann sich anhand von Einzelfragen ergeben. Übergreifende fundamentalethische Fragen können dabei offen bleiben.
Auch wenn hiermit erste Rahmenkonzepte einer religionenübergreifenden ethischen Reflexion vorliegen, steht der christlich-islamische Dialog über ethische Fragen noch in den Anfängen. Dialoge auf den verschiedenen Ebenen sowie eine Beschäftigung mit ethischen Traditionen in beiden Religionen können einen Beitrag zur Klärung noch offener Fragen leisten. In der Moderne mit immer komplexer werdenden Einzelfragen wird deutlich, dass es dabei nicht um einen Abgleich vorgegebener Antworten gehen kann, sondern um ein wechselseitiges Anteilnehmen an Reflexionsprozessen und Abwägungen. Dies kann zu einem gemeinsamen öffentlichen Sprechen und Handeln mit Respekt vor bleibenden Differenzen führen.
Zitierte Literatur
Rahman, Fazlur, Islam & Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago/London 1982
Fakhry, Majid, Ethical Theories in Islam, Leiden u. a. ²1994
Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn u.a. 1998
Habermas, Jürgen, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005
Al-Nawawī, Yahā Ibn Sharaf, Das Buch der Vierzig Hadithe, Frankfurt a.M./Leipzig 2007
Ramadan, Tariq, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009
Düwell, Marcus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha H., Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar ³2011
Merks, Karl-Wilhelm, Grundlinien einer interkulturellen Ethik. Moral zwischen Pluralismus und Universalität, Fribourg 2012
Zum Weiterlesen
Eich, Thomas / Reifeld, Helmut (Hg.), Bioethik im christlich-islamischen Dialog, Sankt Augustin 2004
Schmid, Hansjörg / Renz, Andreas / Takım, Abdullah / Ucar, Bülent (Hg.), Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam, Regensburg 2008
Ramadan, Tariq, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009
Schmid, Hansjörg, Islam im europäischen Haus. Wege zu einer interreligiösen Sozialethik, Freiburg 2012
Ströbele, Christian / Middelbeck-Varwick, Anja / Dziri, Amir / Tatari, Muna (Hg.), Armut und Gerechtigkeit. Christliche und islamische Perspektiven, Regensburg 2016
Binay, Sara / Khorchide, Mouhanad (Hg.), Islamische Umwelttheologie. Ethik, Norm und Praxis, Freiburg i.Br. 2019