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Gottes Wort in der Geschichte: Bibel und Koran

Hans Zirker, Mohammad Gharaibeh
Dass Gott zu den Menschen gesprochen und ihnen sein Wort anvertraut hat, glauben Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen gemeinsam. Zugleich sind sie darin aber auch erheb-lich geschieden. In der Bibel – für Jüdinnen und Juden „Tora, Propheten und Schriften“, für Christ:innen die Einheit aus Altem und Neuem Testament – und im Koran haben sie ihr je eige-nes Fundament und den unaufgebbaren Ausdruck ihrer Identität. Somit hat die Frage, wie Jü-dinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen sich wechselseitig verstehen und zueinander verhalten können, angesichts dieser Bücher besonderes Gewicht. Für den christlich-islamischen Dialog ist dies ein zentrales Thema. Zugleich aber betrifft es auch das je eigene Selbstverständ-nis: In der Wahrnehmung der anderen Religion wird man sich der eigenen neu bewusst.
Veröffentlicht im Mai 2014
Aktualisiert im März 2023
Zitierlink: https://handbuch-cid.de/gottes-wort-in-der-geschichte-bibel-und-koran/

1. „Gottes Wort“ interreligiös – in säkularer Umgebung

Welche Verlegenheit sich daraus ergeben kann, hat auf christlicher Seite das Zweite Vatikanische Konzil gezeigt, als es 1965 in seiner „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ (Nostra aetate, Art. 3) einerseits den muslimischen Glauben „mit Hochachtung“ würdigte, anderseits aber den Koran und seinen Verkünder Muhammad mit keinem Wort zu erwähnen verstand. Dass sich Muslim:innen mit solchem Schweigen nicht zufrieden geben konnten, liegt auf der Hand; aber auch Christ:innen wurden sich im Lauf der Zeit dieses Defizits der konziliaren Erklärung zunehmend deutlicher bewusst. Anderseits fragen Christ:innen Muslim:innen, wie sie die biblischen Schriften sehen und zu achten vermögen. Eine gleichermaßen lehramtlich autoritäre Antwort ist dabei aber nicht zu erwarten. Die muslimische Seite ist grundsätzlich vielstimmig.

Doch noch aus einem wesentlich anderen Grund sind beide Seiten gehalten, sich mit ihrem Verständnis von Bibel und Koran zu befassen. Wir leben in einer weithin säkularen Kultur. Für viele Menschen um uns her ist der Bezug auf „Gottes Wort“ fremd, gar befremdlich. Sie können es in unserer Welt nicht ausmachen, hören nur menschliche Rede, finden nur menschliche Literatur, kulturelle Zeugnisse. Wollten wir das einfach als „ungläubig“ abtun, würden wir der uns gegebenen Situation nicht gerecht. Sie berührt uns auch selbst. Wir haben einigermaßen einsichtig zu sagen, was wir mit „Gottes Wort“ meinen und welche Vorstellungen uns dabei fernliegen. Andernfalls tragen wir selbst dazu bei, dass Religion, ob christlich oder muslimisch, zu einer eigentümlichen Sonderwelt wird, in der sich nur die zu verstehen scheinen, die ihr angehören. Wenn Christ:innen und Muslim:innen dieses Problem gemeinsam wahrnehmen und miteinander verhandeln, ist das je für sie selbst, aber auch interreligiös und gesellschaftlich ein Gewinn.

2. „Gott spricht“, metaphorisch gesagt

Dass Gott spricht, lesen wir durchgängig in der Bibel wie im Koran. Damit fügt sich sein Wort anscheinend ganz in die Art menschlicher Rede ein. Aber wir finden in beiden Religionen auch kräftige Abwehr solcher anthropomorpher Vorstellungen, da Gott doch von uns absolut unterschieden, unserer Welt völlig jenseitig gedacht sein soll. „So prägt für Gott keine Vergleiche!“, fordert der Koran (Sure 16,74), denn: „Nichts ist ihm gleich.“ (Sure 42,11). Hier tut sich ein Dilemma auf, das die islamische Theologie schon von früher Zeit an intensiv beschäftigte. Doch die allen Differenzen vorausliegende Antwort gibt der Koran selbst in seinem gewaltigen „Lichtvers“ (Sure 24,35): „Gott prägt den Menschen die Vergleiche“. Alle Rede über Gott – unumgänglich bildhaft – ist nach dem Koran dann legitim, wenn sie uns von Gott selbst zur Verfügung gestellt ist.

Doch diese Aussage, dass Gott „die Vergleiche prägt“, dass er uns die Sprache über ihn zur Verfügung stellt, muss notwendigerweise selbst wieder metaphorisch verstanden werden. Die gesetzte Grenze zwischen unserer Sprache und Gott ist nicht zu überwinden.

Für dieses Dilemma wurden in der Geschichte islamischer Theologie zwei gegensätzliche Antworten gefunden. Die Mu‛tazila, eine besonders im 8./9. Jh. einflussreiche theologische Richtung, vertrat – im Ansatz dem Koran sehr nahe – die Meinung, die göttliche Rede sei nur im übertragenen Sinn Gott zuzuschreiben. Er habe sie geschaffen und um unsertwillen zu der seinen erklärt. Sie ist, so verstanden, ein Ausdruck von Gottes Wissen, Willen und Macht.

Entgegenstehende Richtungen, die sich langfristig durchsetzten und heute den Mainstream des sunnitischen Islam bilden, schrieben Gottes Rede wörtlichen Sinn zu, aber von menschlicher Rede absolut geschieden; ein Attribut Gottes, somit ihm gleichwesentlich, nicht grammatisch gefasst und nie verstummend. In diesem Verständnis ist der literarische Koran der geschaffene Ausdruck von Gottes ungeschaffener, ewiger Rede, die wir nicht kennen können. So kommen beide Positionen trotz aller Gegensätzlichkeit darin überein, dass der Koran das unserem unzulänglichen Verständnis zugemessene Wort ist.

Auch die christliche Theologie sah sich von der Frage umgetrieben, wie sich menschliche Sprache auf Gottes Wesen beziehen könne. Auf dem vierten Laterankonzil von 1215 formulierte die Kirche den entscheidenden Lehrsatz: „Zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre“ (Denzinger-Hünermann, Nr. 806). Aber dieser Verweis auf unterschiedliche Grade von „Ähnlichkeit“, wechselnd „groß“ und „größer“, ist unverkennbar auch wieder bildhaft, eine paradoxe Metapher. Die Beziehung von menschlicher Sprache auf Gott lässt sich nicht logisch exakt als Analogie fassen.

So bleibt unser Verständnis von Gottes „Wort“ immer unseren Bedingungen verhaftet. Wir kommen über unser Kommunikationsmuster nicht hinaus. Daraus ergibt sich eine aufschlussreiche Konsequenz: Wenn „Gottes Wort“ derart fundamental dem menschlichen Vorstellungsvermögen verhaftet ist, ist es in literarischer, auch theologisch verantwortbarer Sicht Fiktion, freilich nicht leichtfertig ausgedacht und beliebig erfunden, sondern sozial vermittelt, eingebunden in eine weitreichende Geschichte. Religionen sind Erfahrungs- und Lerngemeinschaften. Dies gilt für gläubiges wie säkulares Verständnis.

3. Gottes Wort und Worte, Buch und Bücher

3.1 Die lesbare Welt

Nach jüdischem, christlichem und islamischem Glauben beruht die Welt auf Gottes Wort, ist selbst von Grund auf Anrede und Mitteilung. „Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen“ (Ps 33,6) – „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“ (Ps 19,2) – „Zu seinen Zeichen gehört, dass er euch aus Staub erschaffen hat … Und zu seinen Zeichen gehören die Erschaffung der Himmel und der Erde, die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben.“ (Sure 30,20.22). Die Welt ist auf Gott hin lesbar.

3.2 Die geschichtlichen Zeugnisse

Demgegenüber sind die Bibel und der Koran Gottes Wort in nachträglichen Schriften, Offenbarung in Literatur. Dies bringen sie in ihrem jeweils eigenen Charakter zum Ausdruck. Die Bibel gibt sich, im Unterschied zum Koran, nicht als ein einziges Werk, sondern eher als eine Bibliothek: Sie ist eine Sammlung von Schriften aus vielen Jahrhunderten, von Zeugnissen verschiedener Traditionen und wechselnder Erfahrungen, ein reicher Ertrag der Geschichte. Literarisch dominiert die große Erzählung. In vielen einzelnen Bögen reicht sie von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen, über die urgeschichtlichen Zerrüttungen, die mit dem Turmbau zu Babel in den Zerfall der Sprache und menschlichen Gemeinschaft münden, anschließend über den Neuanfang mit der Erwählung Abrahams, die bewegten Epochen Israels, dann neutestamentlich die Geschichte Jesu und seiner Jüngergemeinschaft bis zu den apokalyptischen Ereignissen der Endzeit. Eingelassen in diesen weit gespannten Zusammenhang sind die prophetischen Bücher, Gesetzessammlungen, weisheitliche Reflexionen, das Psalmenbuch, pastorale Briefe und anderes mehr. Wie viele Autoren zu diesem Opus beigetragen haben, ist unabsehbar, ihre Namen sind zumeist unbekannt oder fingiert. Und dennoch sagen Christ:innen zu all dieser Vielfalt in liturgischer Praxis und theologischer Bewertung „Wort Gottes“.

Aber auch der Koran ist nicht von vornherein ein kodifiziertes und kanonisiertes Buch. Nach allgemeiner muslimischer Überzeugung wurde er in einem Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren (610–632) als eine Folge einzelner Weisungen zu verschiedenen historischen Begebenheiten offenbart, Muhammad vermittelte also kein geschlossenes Werk, das sich kontinuierlich von vorn bis hinten lesen ließe. Dass ein Buch aus 114 Kapiteln („Suren“) entstand, bedurfte einer langen Redaktionsgeschichte nach Muhammads Tod, die jedoch nach muslimischem Glauben von Muhammad vorgegeben war. Die ursprüngliche situative Vielfalt aber blieb in dem einen Buch unübersehbar.

3.3 Christlich: Die geschichtliche Person als universales „Wort“

Der christliche Glaube geht in seinem Verständnis von Offenbarung weiter. Alle biblischen Zeugnisse sind ihm Gottes Wort nur in abgeleitetem Sinn; sie weisen über sich hinaus – nach der verdichtenden Formulierung des Johannesevangeliums: „Am Anfang war das Wort … Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Die in der Bibel bezeugte Hinwendung Gottes zu den Menschen, ist nach christlichem Glauben am innigsten und unüberbietbar realisiert in der Person Jesu von Nazaret.

3.4 Vielfalt und Gleichsinnigkeit der Schriften in der Sicht des Koran

Wie die Bibel blickt auch der Koran auf eine Fülle von Ereignissen zurück, freilich trotz aller Gemeinsamkeiten in erheblich anderer Weise: Auf frühere Begebenheiten spielt er zumeist nur an. Sie sind den Zeitgenoss:innen Muhammads schon bekannt; sie sollen sich nur besinnen. In formelhafter Eindringlichkeit betont der Koran immer wieder, dass er „erinnernde Mahnung“ ist. Er schreitet nicht erzählend weite Wege ab, führt nicht durch Räume und Zeiten, sondern will vor allem das zu Gehör bringen, was bisher schon durchgängig zu erfahren war. Er deckt Entsprechungen auf; sieht das Frühere in Gegenwärtigem wiederholt, das Gegenwärtige in Früherem gespiegelt. Entscheidend sind ihm die typologischen Beziehungen. Was Muhammad widerfährt, ist schon Gottes Gesandten vor ihm, vor allem Mose, widerfahren. Die glaubend dem Propheten folgen, sollen sich in Abrahams Gemeinschaft wieder erkennen. Wie diese, aber auch wie etwa Jesu Jünger, können sie sagen, dass sie „gottergeben“, „Muslime“, sind (Sure 3,67; 5,111; 22,78).

Zwar kamen in der Sicht des Koran alle Zeiten hindurch und zu allen Völkern Gottes Gesandte; auch deren Zahl ist unüberschaubar – „Von manchem unter ihnen haben wir dir erzählt und von manchem nicht“ (Sure 40,78); „Wir sandten keinen Gesandten außer in der Sprache seines Volkes“ (Sure 14,4) – ; doch aufgetragen war ihnen allen die im Grund gleiche Botschaft: dass der eine Gott die Welt erschaffen hat, den Menschen den rechten Weg weist, sie barmherzig leitet, dereinst aber auch zur Verantwortung ziehen wird. In diesem Sinn versichert Gott Muhammad: „Es wird dir nur gesagt, was den Gesandten schon vor dir gesagt wurde“ (Sure 41,43). Dementsprechend wendet sich der Koran betont an die „Leute des Buchs“ oder „Schriftbesitzer“, gemeint sind vor allem Jüdinnen und Juden und Christ:innen. Sie sollen Gottes Wort gleichermaßen verbürgt sehen „in der Tora, im Evangelium und im Koran“ (Sure 9,111), darüber hinaus in dem „was auf den früheren Blättern steht“ (Sure 20,133), „den Blättern Abrahams und Moses“ (Sure 87,18), und in Davids „Psalter“ (Sure 4,163; 17,55). Sogar Johannes, der Sohn des Zacharias, erhielt „die Schrift“, damit er sie „machtvoll“ verkünde (Sure 19,12).

Auch der Koran rückt demnach eine Mehrzahl von Schriften in den Blick, aber dabei geht es ihm nicht um deren besondere Erfahrungen, Einsichten, Ermutigungen und Weisungen, sondern um das, was ihnen gemeinsam ist, so dass schließlich vom Koran gesagt werden kann: „Er ist in den Schriften der Früheren“ (Sure 26,196). Was Gott den Menschen zukommen lässt, ist in dieser Sicht wiederholtes Wort. Das spätere ergeht, um das frühere zu „bestätigen“ und „darüber Gewissheit zu geben“ (Sure 5,48).

Die Einheit der verschiedenen Offenbarungen wird hier noch dadurch verstärkt, dass Gott den Koran – und damit auch alle ihm vorausgehenden prophetischen Schriften – zurückbezieht auf eine himmlische Vorlage: „Er ist bei uns in der Mutter der Schrift, erhaben und weise“ (Sure 43,4), „auf behüteter Tafel“ (Sure 85,22). In dieser Sicht ist der Koran die „Herabsendung“ (Sure 20,4) von Gottes ewigem, unmittelbarem Wort, zunächst nicht als aufgeschrieben zu lesendes Buch, sondern als rezitiert zu hörende Rede, als Qur’ān, „Vortrag“ in arabischer Diktion. Die gottesdienstliche Rezitation in der Moschee vergegenwärtigt in ständiger Wiederholung an allen Orten die geschichtliche Mitteilung von Gottes Wort. Nach muslimischer Einschätzung sind Übersetzungen zwar nötig, aber sie sind nicht mehr „der Koran“, sondern nur noch Verständnishilfen. Diese Bindung an die arabische Sprache steht freilich dem Anspruch des Koran auf universale Geltung und Anerkennung unverkennbar entgegen.

In christlicher Terminologie gesagt, ist der Koran das zentrale „Sakrament“ des Islam, Zeichen von Gottes heilvoller Zuwendung. Im Vergleich des christlichen und des islamischen Glaubens stehen, theologisch genau genommen, also nicht die Bibel und der Koran, sondern der Koran und Jesus Christus auf einer Ebene. Der Islam ist Schriftreligion im ausgeprägtesten Sinn.

4. Die Bedeutung der Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser – geschichtliche Konfrontationen

Die Konzentration des islamischen Schriftverständnisses auf das gleichbleibend Gültige birgt Konflikte in sich. Für Jüdinnen und Juden sowie Christ:innen stimmte der Koran nicht derart mit ihren eigenen Zeugnissen überein, dass sie ihn widerspruchslos hätten annehmen können. Im Gegenzug erfuhren sie den Vorwurf, dass sie auf Gottes Wort, das ihnen doch selbst zugekommen sei, nicht hören wollten, dass sie es nicht verstünden oder gar verfälschten. Die Konfrontation war unumgänglich. Denn wer sollte, wenn sich zwischen den Schriften und bei denen, die sie lesen, Gegensätze auftun, über das rechte Wort verfügen und wer liest es richtig? Oder mit den Vorwurfsformulierungen des Koran gefragt: Wer „verdreht bei der Schrift die Zunge“ (Sure 3,78), hat eigenmächtig „die Worte von ihrer Stelle gerückt“ (5,13), „wissentlich entstellt“ (2,75)?

Das vorrangige Interesse an Gemeinsamkeit, Übereinstimmung und Gefolgschaft führt leicht in Sackgassen, die das Verständnis für das Unterschiedliche, das je Eigene und Andere blockieren. Aber dies ist nicht zwingend so. Letztlich ist nicht schon das entscheidend, was im Einzelnen geschrieben steht, sondern wie das, was zu lesen ist, von den Lesern aufgenommen wird.

Kein Buch liest sich selbst, keines genügt sich selbst. Die Bedeutungen sind nie von vornherein schon ein für alle Mal ausgemacht. Immer sind die Leser daran beteiligt, dem Geschriebenen seinen Sinn zu geben. Je anspruchsvoller ein Text ist, desto offener ist er auch für Deutungen und Verhandlungen, desto mehr ist er auf diese angewiesen. Deshalb hat sich um die Bibel und den Koran von Anfang an eine Fülle weiterer Texte gelagert, von knappen Erläuterungen bis zu ausführlichen Kommentaren.

Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei im Islam die Hadithe („Mitteilungen“, „Berichte“), mehrere tausend knappe Überlieferungen dessen, was der Prophet sagte, was er tat und was er stillschweigend billigte oder verwarf. So ist Muhammad nicht nur der Verkünder des Koran, sondern zugleich, mit verbürgter Autorität, sein erster alltagsnaher Interpret. Viele dieser Informationen haben islamische Gelehrte schon in frühen Zeiten als historisch unsicher oder gar erfunden beurteilt. Doch insgesamt bleibt der Koran für Muslim:innen eingelassen in dieses weite Feld von Traditionen, aus dem ihm vielfältige, auch gegensätzliche Bedeutungen zukommen. Einerseits wird das Verständnis des Buchs auf diese Weise zurückgebunden an überlieferten Sinn; anderseits zeigt sich dabei aber auch das Wechselspiel von vorgegebener Schrift und sich situativ wandelnden Fragen und Erwägungen. Das Buch ist eine begrenzte Sache; die Erfahrungen dagegen, was in ihm aufmerken lässt oder worüber man leichter hinweggeht, was Verlegenheit auslöst oder Einsichten vermittelt, was einhellig aufgenommen wird oder strittig bleibt, sind es nicht. Sie gehen unabsehbar weiter.

Dies gilt selbstverständlich gleichermaßen für die Bibel. Auch sie hat ihren Rang und ihre Aussagekraft von alters her in der christlichen Lesegemeinschaft: in der Liturgie zur Sprache gebracht, in Predigten ausgelegt, in kirchlicher Lehre beansprucht, in Unterweisungen vermittelt, der persönlichen Lektüre anvertraut. Diese Situation war über lange Zeiten hinweg im Großen und Ganzen stabil, hat sich aber in dem Maß geändert, in dem unsere kulturellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Orientierungen uneinheitlicher geworden sind, mit Verunsicherungen in doppelter Hinsicht: „Wie soll ich das verstehen?“, und: „Was soll ich davon halten?“

In vordergründigen Auseinandersetzungen sind Bibel und Koran davon unterschiedlich betroffen: die Bibel vor allem in ihren weltbildhaften Momenten (wie Schöpfung und Wunder) und historischen Unzuverlässigkeiten (etwa in den Evangelien), der Koran besonders in seinen sozialen Normen (Stellung der Frau, Bewertung von Andersgläubigen), seinen rechtlichen Maßnahmen (Körperstrafen) und seiner grundsätzlichen Akzeptanz von Gewalt in Konflikten (Dschihad). Aber so lassen sich die Schwierigkeiten nur unzulänglich ausmachen und sortieren, sind doch diese Zuschreibungen davon abhängig, worauf man jeweils im einen und im andern Buch den Blick richtet, was man hier und dort als anstößig hervorhebt und was man ausblendet. Vor allem übergeht man so die Frage, wie Christ:innen und Muslim:innen die Texte aufnehmen und mit ihnen umgehen, ob sie sie auf ihre Welt und ihr Leben beziehen oder auf vergangene Umstände zurückführen. Wer die Bibel und den Koran ohne deren Leser:innen nimmt, hat im besten Fall historische Dokumente von geringer Bedeutung.

5. Interreligiöse Lektüre

Wenn wir nach religionsgeschichtlicher Zuschreibung den Koran nur als das Buch der Muslim:innen sehen, beachten wir nicht, dass er sich ausdrücklich auch an Jüdinnen und Juden, Christ:innen sowie in einem weiteren Schritt an die gesamte Menschheit wendet: „Ihr Leute der Schrift, kommt zu einem zwischen uns und euch gemeinsamen Wort: dass wir nur Gott dienen, ihm nichts zum Partner geben und nicht außer Gott noch einander zu Herren nehmen!“ (Sure 3,64). Und: „Ihr Menschen, dient eurem Herrn, der euch und die vor euch erschaffen hat!“ (Sure 2,21).

Aber Jüdinnen und Juden sowie Christ:innen sind für den Koran nicht nur Adressaten solcher mahnender Aufforderung; er lässt sich selbst auf sie und ihren Glauben ein. Er sucht die Kommunikation, variiert in immer wieder neuen Ansätzen die Themen und Tonlagen. Wieweit die Verkündigung des Koran auf realen Gesprächen mit Jüdinnen und Juden und Christ:innen beruht, von diesen angeregt und begleitet, auf sie reagierend, wissen wir nicht genau; vieles bleibt hypothetisch. Doch ist er jedenfalls kein Buch monologischer Verkündigung.

Die Formierung des Islam als einer eigenen Religion und die Kanonisierung des Koran sind ein gemeinsamer religionsgeschichtlicher Prozess. Gräben und Fronten waren die Folge; für interreligiöse Verständigung, gar gemeinsames Hören und Lesen blieb kaum Raum. Nur langsam veränderte sich in der Neuzeit die kulturelle Atmosphäre, in Bezug auf den Koran vor allem unter dem Einfluss westlicher Islamwissenschaft. In der islamischen Welt stehen deren Forschungen weithin noch im Verdacht, sie wollten mit historischer Kritik die Wertschätzung des Koran untergraben. Dass der wissenschaftliche Austausch jedoch über die Religionsgrenzen hinweg zunimmt, stimmt zuversichtlich. Ähnliches gilt für die beiderseitige Einschätzung der Bibel. Auch hier hemmen überkommene Urteile den Zugang.

Doch das Ziel kann bei alldem nicht sein, über die Schrift der anderen als ganze zu befinden, sie gar autoritativ als „Gottes Wort“ anzuerkennen oder von diesem abzugrenzen. Weder das Christentum noch der Islam haben solche grenzüberschreitende Deutungsmacht.

In erster Linie ist es die Sache von Einzelnen und Gruppen, ein Klima zu schaffen, in dem Bibel und Koran in ihrem literarischen Reichtum und ihrer spirituellen Kraft erfahren werden können. Eine solche Aufmerksamkeit lässt sich nicht reglementieren und im Ergebnis nicht absehen. Wodurch sich jemand angesprochen fühlt und was ihn eher abstößt, was ihn zu handeln ermutigt oder davon abhält, woran ihn das eine denken lässt und was ihm das andere in Erinnerung ruft, ist nicht allgemeingültig auszumachen. Wenn wir etwas hören und lesen, kommt in unserem Bewusstsein Verschiedenes zusammen, mit Entsprechungen und Gegensätzen, mit Ja und Aber. Der Dialog beginnt „in unseren Köpfen“, auch der über Bibel und Koran, wann immer nur wir uns auf diese Bücher und ihre Texte einlassen. Freilich rechtfertigt dies keine beliebigen Einfälle und leichtfertigen Urteile. Ohne Ernsthaftigkeit, Sorgfalt und hinreichende Kenntnisse muss das Verständnis misslingen.

Der Frage, wie Christ:innen Zugang zum Koran, Muslim:innen zur Bibel finden können, widmen sich bislang vorwiegend besondere Bildungsveranstaltungen und theologische Abhandlungen mit Gewinn; doch bleibt diese Intellektualisierung noch am Rand christlichen und muslimischen Lebens; Kirchen- und Moscheegemeinden werden davon wenig berührt. Bedeutsamer ist es, wenn sich Christ:innen und Muslim:innen da und dort bei lebensgeschichtlich oder politisch bewegenden Ereignissen, glücklichen oder bestürzenden, zusammenfinden und sich gemeinsam dessen besinnen, was ihnen als „Gottes Wort“ gilt. Dabei liegt ihnen gewiss jeweils der Text am nächsten, der ihnen zugleich als ihr eigenes Wort, als ihr Gebet, ans Herz gelegt ist – den Christ:innen in den Evangelien das von Jesus gelehrte Vaterunser (Mt 6,9–13; Lk 11,1–4), den Muslim:innen vom Koran: die Fātiḥa, die erste Sure, die „Eröffnung“. So klein die beiden Stücke auch sind, so werden mit ihnen im Geist doch die Bücher aufgeschlagen, in denen sie stehen, und Muslim:innen vernehmen die Bibel, Christ:innen den Koran. Über ihre religiösen Grenzen hinweg legen sie so den Grund für eine Hör- und Lesegemeinschaft.

Hans Zirker/Mohammad Gharaibeh

Zitierte Literatur

Denzinger, Heinrich, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Peter Hünermann, Freiburg i.Br. 402005.

Zum Weiterlesen

Bobzin, Hartmut, Der Koran. Eine Einführung, München, 8. überarbeitete und erweiterte Auflage 2014.

Kermani, Navid, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 42011.

Neuwirth, Angelika, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 32016.

Reinbold, Wolfgang, Koran und Bibel: Ein synoptisches Textbuch für die Praxis, Göttingen 2022.

Schmid, Hansjörg/Renz, Andreas/Ucar, Bülent (Hg.), „Nahe ist dir das Wort …“ Schriftauslegung in Christentum und Islam, Regensburg 2010.

Zirker, Hans, Der Koran. Zugänge – Strukturen – Lesarten, Darmstadt, 4., erweiterte Auflage 2018.

Zirker, Hans, Das Fiktionale der Religion in interreligiöser Sicht, in: Stimmen der Zeit, Jg. 139, Bd. 232, 2014, 14–24; erweiterte Fassung; https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00032820  (07.09.2022).

Authors

  • Prof. em. Dr., Kaarst, geb. 1935, römisch-katholisch; bis 2000 Professor für katholische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Duisburg-Essen

  • Prof. Dr., Berlin, geb. 1980, muslimisch; Professor für Islamische Ideengeschichte, Berliner Institut für Islamische Theologie, Humboldt-Universität zu Berlin

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