gefördert durch

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus juristischer Perspektive

Burkhard Guntau, Iris Muth
Allen in Deutschland lebenden Menschen steht Religionsfreiheit zu, damit auch die Ausübung des Bekenntnisses. Diese gilt auch für Religionsgemeinschaften. Angelegenheiten, die sowohl staatliches als auch kirchliche Interessen berühren, sind durch Konkordate und Staatskirchenverträge geregelt, in einigen Bundesländern auch durch Verträge zwischen Land und muslimischen Verbänden. Darüber hinaus streben viele Verbände den Status als Körperschaft des Öffentlichen Rechts an, weil damit verschiedene Hoheitsrechte verbunden sind.
Veröffentlicht im Mai 2014
Aktualisiert im März 2023
Zitierlink: https://handbuch-cid.de/zugange-zum-christlich-islamischen-dialog-aus-juristischer-perspektive/

Anders als in laizistisch geprägten Ländern arbeitet der deutsche Staat in einigen Bereichen mit den Religionen zusammen. Die große Mehrheit der Musliminnen und Muslime akzeptiert die Rechtsordnung der Mehrheitsgesellschaft. Die rechtlichen Rahmenbedingungen bieten in Deutschland gute Chancen für den Dialog zwischen den Religionen auf allen Ebenen. Die in Deutschland tendenziell zunehmenden Vorbehalte gegenüber gelebten religiösen Überzeugungen stellen Christentum wie Islam vor gleiche Herausforderungen, geht es doch beiden Religionen darum, Menschlichkeit und Verantwortung vor Gott im Handeln in der Welt zur Geltung zu bringen.

Das Prinzip der Religionsfreiheit

Allen Menschen, die in Deutschland leben, steht nach Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) als individuelles Grundrecht die Religionsfreiheit zu. Das Grundrecht umfasst neben der Freiheit des Glaubens, Gewissens und des religiösen bzw. weltanschaulichen Bekenntnisses auch die Freiheit zur Religionsausübung (Art. 4 II GG). Dies gilt auch für die hier lebenden Musliminnen und Muslime, unabhängig davon, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht. Die Religionsfreiheit gilt nach Artikel 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. Weimarer Reichsverfassung (WRV) nicht nur für christliche Religionsgemeinschaften, sondern auch für muslimische Religionsgemeinschaften, und zwar unabhängig davon, wie sie rechtlich organisiert sind. Der Islam kennt keine den Kirchen vergleichbaren Strukturen. Eine „Verkirchlichung“ des Islam ist für die gemeinschaftliche Wahrnehmung der Religionsfreiheit nicht notwendig. Den Musliminnen und Muslimen stehen alle von der Rechtsordnung vorgesehenen Organisationsstrukturen zur Verfügung, wenn sie die damit verbundenen Rechte ausüben wollen. Faktisch haben sie sich in Deutschland in einer Vielzahl von Vereinigungen in der Form eingetragener Vereine und in mehreren Dachverbänden zusammengeschlossen. Das Grundgesetz respektiert, dass sich Religionen in unterschiedlichen Denominationen und Konfessionen differenzieren können. Deshalb müssen sie sich auch nicht zu einer einheitlichen Organisation zusammenschließen. Sunnitische und schiitische Personen ebenso wie Alevitinnen und Aleviten und Ahmadis können sich als jeweils eigenständige Organisationen etablieren. Die sunnitischen und schiitischen Mehrheitsrichtungen bestreiten immer wieder die Zugehörigkeit der Alevitinnen und Aleviten sowie der Ahmadis zum Islam. Der Staat und seine Rechtsordnung dürfen in solche Auseinandersetzungen inhaltlich nicht eingreifen. Rechtlich bleibt die theologische Diskussion unmaßgeblich.

Religionsfreiheit (▸ Leben in Freiheit und Würde: Menschenrechte) schließt von Seiten der Verfassung auch das Recht ein, sich vom Glauben fernzuhalten oder die Religion zu wechseln, auch wenn dies den Vorstellungen mancher Musliminnen und Muslim widerspricht. Religionsfreiheit umfasst das Recht jeder und jedes Einzelnen, das gesamte Verhalten an den Lehren ihre bzw. seiner religiösen Überzeugungen auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Diese Überzeugung gewinnen die Gläubigen aus dem Koran und der Scharia, dem islamischen Recht. Es enthält neben kultischen und rituellen Vorschriften die religiösen individuellen Verpflichtungen gegenüber Gott und den Mitmenschen sowie Vorschriften über das Familien- und Strafrecht. Letztere können im deutschen Rechtssystem nur in engen Grenzen Anwendung finden, da sie in vielen Fällen dem hiesigen Recht widersprechen. Jede Rechtsordnung – auch die deutsche – entscheidet allein darüber, ob und in welchem Umfang fremde Rechtsnormen auf ihrem Territorium angewandt werden können. Nach der deutschen Rechtsordnung gilt dies in Fällen des internationalen Privatrechts. Danach wird grundsätzlich in Fällen mit Auslandsbezug das nationale Recht angewandt, dass am Stärksten mit diesem Fall sachlich verbunden ist. So werden z. B. auch im Ausland wirksam geschlossene polygame Ehen von Muslimen insoweit anerkannt, als hieraus eine der Ehefrauen Rechte gegen den Ehemann – etwa im Unterhalts- oder Erbrecht – ableitet.

Der freiheitliche Staat und die Religionen

Die Ordnung des freiheitlichen und friedlichen Verhältnisses zwischen Staat und Religion in Deutschland hat Wurzeln, die weit zurückreichen. Über Jahrhunderte prägte Westeuropa die Vorstellung, dass Staat und Religion untrennbar eine Einheit bilden und die Gesellschaft nur durch die gemeinsame Religion zusammengehalten werden könne. Dies ist eine Vorstellung, die bis heute in vielen islamisch geprägten Staaten zu finden ist. Andersgläubige wurden ausgegrenzt, zur Auswanderung gezwungen oder mit dem Tod bedroht. So kam es infolge der Reformation in Deutschland zu einem erbitterten militärischen Ringen um die Vormachtstellung des katholischen oder reformatorischen Glaubens, die im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ihren Höhepunkt fand.

Der Westfälische Frieden von 1648 führte dazu, dass drei christliche Bekenntnisse (das katholische, lutherische und reformierte) gleichberechtigt nebeneinander traten, deren Schutz den jeweiligen Landesherren oblag. Diesen wuchs das Recht zu, in ihren Territorien die für alle Untertanen einheitlich geltende Konfession zu bestimmen und auch zu wechseln. Der persönlich abweichenden Entscheidung der Einzelnen wurde dadurch Rechnung getragen, dass ein Recht auf Auswanderung aus dem Territorium unter Mitnahme des Eigentums etabliert wurde. Die Bedeutung des Westfälischen Friedens liegt darin, dass er zwischen den Religionsgemeinschaften auf nachhaltige Weise Frieden auf der Grundlage der verbindlichen Toleranz stiftete.

Der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet ist, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur Realität. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten, inklusive der Religionsfreiheit, ausgestattet ist, kann ihn nicht einer vorgegebenen Religion zuweisen. Er kann ihn auch nicht direkt oder indirekt zwingen, sich für eine Religion zu entscheiden oder ihm verbieten, seine Religion in Gemeinschaft mit anderen auszuüben.  Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern allein von den Menschen, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind. Dahinter steht die Philosophie der Aufklärung, wonach in einem demokratischen Verfassungsstaat religiöse Überzeugungen von dem staatlichen Verständnis von Gerechtigkeit möglichst unabhängig sein sollten. Der Staat soll keine Partei ergreifen hinsichtlich der pluralen und tlw. konkurrierenden religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen einer freien, offenen Gesellschaft. Religiöse Neutralität setzt eine klare institutionelle Scheidung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es ein wohlverstandenes Interesse des Staates, Religion als Bestimmungskraft für das Leben gläubiger Menschen wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern.

Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Religionsgemeinschaft bedeutet nach deutschem Verfassungsrecht nicht, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Werte- und Überzeugungsbildung an. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die aus religiöser Überzeugung kommende Pflicht, dem Gemeinwohl und der ganzen Gesellschaft zu dienen, soll den säkularen freiheitlichen Rechtsstaat stärken. Die grundrechtlich gewährleistete Religionsfreiheit ist nicht an eine bestimmte Religion – etwa das Christentum – gebunden. Die Tatsache, dass es in verschiedenen islamischen Staaten für Christinnen und Christen wie auch für christliche Kirchen keine Religionsfreiheit in unserem Sinne gibt, ist für ihre Gewährleistung in Deutschland rechtlich ohne Belang. Der Grundrechtsschutz ist nicht davon abhängig, dass die Grundrechtsfreiheit im Gegenseitigkeitsverhältnis verbürgt ist.

Mitwirkung der Religionsgemeinschaft in der Gesellschaft

Eine Vielzahl von Angelegenheiten, die staatliche wie kirchliche Interessen gleichermaßen berühren, so z.B. die Anerkennung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirchen, die Mitwirkung bei der Besetzung von Lehrstühlen an den theologischen Fakultäten und für die Religionslehrerausbildung, die Gewährleistung, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ (Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz) wird, das Privatschulwesen, die Seelsorge in Polizei und Bundeswehr, in Haftanstalten und staatlichen Krankenhäusern, um nur einige wichtige Bereiche zu nennen, sind durch Konkordate und Staatskirchenverträge – also auf Augenhöhe – geregelt. Auch zwischen muslimischen Verbänden und einigen Bundesländern wurden vergleichbare Verträge geschlossen. Vorreiter war die Freie Hansestadt Hamburg, die mit dem DITIB-Landesverband Hamburg e.V., SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. und dem Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) am 13.11.2012 einen Vertrag zur Zusammenarbeit zwischen dem Land Hamburg und den drei muslimischen Gemeinden abgeschlossen hat. Parallel schloss Hamburg einen Vertrag mit der alevitischen Gemeinde. Die Vereinbarungen etwa zu Feiertagen, islamischen Bestattungen und zu einem gemeinsam gestalteten Religionsunterricht gelten als Meilenstein für eine rechtliche Integration des Islam in Deutschland.

So werden den vertragsschließenden Verbänden neben islamischen Feiertagen besondere Rechte in Bezug auf das Bestattungswesen und den Moscheebau vom Land zugestanden. Die muslimischen Verbände wiederum stellen mit dem Vertrag ihr Verhältnis zum demokratischen Rechtsstaat und der freiheitlichen Gesellschaftsordnung verbindlich klar, „insbesondere [die] Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Geltung der Grundrechte, die Völkerverständigung und die Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen sowie der freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung des Gemeinwesens. Sie sind sich einig in der Ächtung von Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Glauben oder religiöser oder politischer Anschauungen und werden gemeinsam dagegen eintreten. Sie bekennen sich insbesondere zur Gleichberechtigung der Geschlechter und zur vollständigen und gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Mädchen am gesellschaftlichen und politischen sowie am schulischen und beruflichen Leben. Sie setzen sich für die Verwirklichung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Mädchen ungeachtet ihrer religiösen Überzeugungen an Bildung, Erwerbstätigkeit und gesellschaftlichem Leben ein und wenden sich entschieden gegen jede Art von Diskriminierung.“ (Artikel 2 des Vertrages mit der Hansestadt Hamburg)

Anders als die Kirchen sind die muslimischen Dachverbände keine Körperschaften des öffentlichen Rechts. Damit sind sie auch nicht vollständig als Religionsgemeinschaften anerkannt. Der Hamburger Staatsvertrag formulierte daher das Ziel, dass die muslimischen Dachverbände den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts erlangen.  Nur gut zwei Monate später, am 15.11.2013, schloss die  Freie Hansestadt Bremen als zweites Bundesland mit den  islamischen Religionsgemeinschaften im Lande Bremen, nämlich der Schura – Islamische Religionsgemeinschaft Bremen e.V., dem DITIB-Landesverband der Islamischen Religionsgemeinschaften Niedersachsen und Bremen e.V. und dem VIKZ einen vergleichbaren Vertrag ab. Trotz einzelner Forderungen nach Neubewertung der Zusammenarbeit mit der DITIB, ins. nach Rücktritt vom Landesvorstand der DITIB in 2021, hält der Bremer Senat am Staatsvertrag fest, da er sich im Grundsatz bewährt habe. Niedersachsen und Rheinland – Pfalz starteten ebenfalls Verhandlungen mit den muslimischen Gemeinden, setzten diese jedoch aus. Rheinland-Pfalz hat am 01.04.2020 eine Zielvereinbarung mit vier muslimischen Verbänden, der DITIB-Rheinland Pfalz e.V., Schura Rheinland-Pfalz e.V., dem Landesverband der Islamischen Kulturzentren Rheinland-Pfalz e.V. (LVIKZ) und der Ahmadiyya Muslim Jamaat K.d.ö.R. (AMJ), geregelt. Die AMJ wurde als erste muslimische Vereinigung 2013 in Deutschland als Körperschaft des Öffentlichen Rechts anerkannt.

In der Zielvereinbarung unterstreichen die Unterzeichnenden, dass die gemeinsame Basis ihrer Zusammenarbeit die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Die Verbände unterstreichen zudem ihren Willen, die in einem Gutachten aufgezeigten Mängel zu beseitigen. Hierzu gehört u.a.  ihre Angelegenheiten frei vom politischen Einfluss Dritter zu vollziehen. Die Landesregierung sagt ihrerseits zu, Maßnahmen zur Stärkung des muslimischen Lebens in Rheinland – Pfalz zu ergreifen. Darunter die Fortsetzung des Dialogs zu einem islamischen Religionsunterricht in Schulen und zur Einrichtung einer Lehramtsausbildung in Islamischer Theologie an der Universität Koblenz. Die Frist der Zielvereinbarung wurde 2021 auch mit dem Hinweis auf Verzögerungen durch die Corona-Pandemie nochmal verlängert. Erst nach erfolgreicher Erfüllung der Vereinbarungen sollen Vertragsverhandlungen wieder aufgenommen werden.

Rechtliche Organisation

Der Abschluss von Verträgen mit den Bundesländern erfordert nicht, dass die muslimischen Verbände den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben, wie dies für die großen christlichen Kirchen kraft des Grundgesetzes vorgegeben ist. Um als Religionsgemeinschaft auftreten zu dürfen und die diesen gewährten Rechte in Anspruch zu nehmen, bedarf es nicht des Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Diesen streben jedoch viele muslimische Verbände seit Jahren an. Denn mit ihm sind eine Reihe von Hoheitsrechten verbunden, die sonst nur dem Staat selbst zustehen: So kann u.a. die für Mitglieder der Religionsgemeinschaft verbindliche Rechtsetzung einseitig durch Gesetze und Verordnungen erfolgen. Beschäftigungsverhältnisse können öffentlich-rechtlich in einem Beamtenstatus begründet werden. Es können Mitgliedsbeiträge als Steuern erhoben werden. Ferner gibt es ein sog. „Privilegienbündel“ von Einzelbegünstigungen, wie z.B. steuerliche Begünstigungen und die Gewährung von Vollstreckungsschutz. Dagegen ist die Vertretung in öffentlichen und staatlichen Gremien, wie bspw. Rundfunkräten, nicht durchgängig an den Status gebunden. Häufig erfolgt die Vertretung durch die Benennung der jeweiligen Religionsgemeinschaft als gesellschaftlich relevante Gruppe, losgelöst von ihrem juristischen Status.

Selbst wenn muslimische Verbände nicht alle dieser Rechte und Privilegien für sich vollständig in Anspruch nehmen wollten, streben zumindest die meisten von ihnen an, mit den Kirchen auf einer rechtlich gleichen Stufe zu stehen.

Ihnen kann der Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen werden, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet. Sie müssen ferner die Gewähr dafür bieten, dass sie die übertragene Hoheitsgewalt nur im Einklang mit der Verfassung und der Rechtsordnung ausüben werden. Eine weitergehende Staatsloyalität ist nicht erforderlich. Eine Anerkennung kommt nicht in Betracht, wenn die Religionsgemeinschaft auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung hinwirkt. Maßstab für die Prüfung ist bei all diesen Voraussetzungen nicht der Glaube, sondern das tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft. Entscheidend für diese Einschätzung sind der gegenwärtige Mitgliederbestand der Religionsgemeinschaft und ihre „Verfassung im Übrigen“. Rein theologisch-theoretische Vorbehalte gegen politische Systeme (z. B. die Qualifikation politischer Systeme als „Bestandteil der Welt Satans“) stehen dem grundsätzlich nicht entgegen,  solange der Staat als Ordnung anerkannt wird. Das kann insbesondere für schiitische Richtungen bedeutsam werden, die aus religiös-historischen Gründen eine Distanz zur staatlichen Machtausübung pflegen. Wie bereits oben beschrieben, wurde als erster muslimischer Organisation  der Ahmadiyya Muslim Jamaat im Juni 2013 in Hessen der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen.

Religiöse Erziehung

Für die ganzheitliche Bildung ist die religiöse Erziehung in der Schule unverzichtbar. Sie geht über die Weitergabe von Informationen hinaus, indem sie auf die individuellen und sozialen Existenzfragen Antworten aus der Religion sucht und damit zu einer eigenen Urteilsbildung und Standortfindung anregt. Das Grundgesetz ermöglicht daher in seinem Artikel 7 Abs. 3 den bekenntnisorientierten Religionsunterricht als ordentliches Schulfach. Dies gilt nicht für die bekenntnisfreien Schulen.

Die muslimischen Verbände fordern mit Unterstützung der christlichen Kirchen seit Jahren die Etablierung eines bekenntnisorientierten Islamunterrichts. Da der Staat selbst die Inhalte des Religionsunterrichts auf Grund seiner religiösen Neutralität nicht vorgeben kann, bedarf es eines muslimischen Ansprechpartners oder Ansprechpartnerin, der oder die zugleich die nötige Autorität und Gewähr für die Verfassungstreue aufweist, um die Lehrinhalte verbindlich festlegen zu können. Der Religionsunterricht ist insofern nicht Gebot, sondern Angebot der Verfassung. Entscheidend ist, dass auch der islamische Religionsunterricht – wie jeder andere Unterricht – der freiheitlich demokratischen Grundordnung verpflichtet ist und in deutscher Sprache von dazu wissenschaftlich ausgebildeten Lehrkräften erteilt wird. Diese Ausbildung ist inzwischen an mehreren universitären Zentren für islamische Theologien in Kooperation mit erziehungswissenschaftlichen Fachrichtungen möglich. Hier ist viel in Gang gekommen. In insgesamt elf Bundesländern ist inzwischen ein islamischer Religionsunterricht eingeführt, wenn auch noch nicht flächendeckend. Je nach Bundesland erfolgt der muslimische Unterricht zusammen mit muslimischen Verbänden (so in Niedersachsen und Berlin), staatlich und mit muslimischen Verbänden (so in Hessen), in staatlicher Verantwortung (so in Bayern), als Religionsunterricht für alle (so in Bremen) oder als Modellprojekt mit muslimischen Partnern, wie in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Baden-Württemberg.

Verpflichtung zur Toleranz

Der Dialog zwischen christlichen und muslimischen Gläubigen bzw. zwischen den Kirchen und den muslimischen Verbänden findet seine Grenze dort, wo der anderen Seite Gewalt, Feindschaft und Hass entgegengebracht wird. Die Garantie der Religionsfreiheit kann nicht grenzenlos sein, wie auch die Erfahrungen der Religionskriege des 17. Jahrhunderts in Deutschland gelehrt haben. Das Zusammenleben in einem Gemeinwesen verlangt, dass die elementaren Grundlagen, auf denen das freiheitliche demokratische Staatswesen beruht, von jedermann akzeptiert werden. Die Freiheit aller Religionen erfordert die Verpflichtung zu gegenseitiger Toleranz. Sie bildet im Verhältnis zur Religionsfreiheit das verfassungsrechtliche Komplementärprinzip und stellt damit eine der Religionsfreiheit innewohnende immanente Schranke dar.

Das Grundgesetz geht angesichts der geschichtlichen Erfahrungen der Weimarer Republik von 1918–1939 bewusst von einer „wehrhaften Demokratie“ aus und gestattet „keine Freiheit den Feinden der Freiheit“. Auch religiösem Extremismus ist mit allen rechtsstaatlichen Mitteln präventiv und repressiv entgegenzutreten. Umso bedeutsamer ist der Dialog mit der friedfertigen und kooperationswilligen übergroßen Mehrheit der Musliminnen und Muslime und ihrer Verbände in Deutschland. Er kann ein wichtiges Signal für die Menschen und Kulturen verbindende Kraft der Religionen geben.

Zum Weiterlesen

Bielefeldt, Heiner, Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Reli-

gionsfreiheit, Bielefeld 2003

Bielefeldt, Heiner, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007

Heine, Peter / Khoury, Adel Theodor / Oebbecke, Janbernd, Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft. Probleme im Alltag – Hintergründe – Antworten, Gütersloh 2001

Rohe, Mathias, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektive, Freiburg i. Br. 2001

Ceylan, Rauf; Kiefer, Michael – Islampolitik in Deutschland, bpb, Bonn 2022

Authors

Andere Texte zu diesem Kapitel

Grundlagen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus muslimischer Perspektive

Der Mensch lebt in ständiger Beziehung mit seinem Umfeld und ist auf Begegnung und Dialog angewiesen. Sind die Ansprüche, Sichtweisen und Bedürfnisse unterschiedlich, sind mehr Begegnung und Verständigung notwendig, um die verbindenden Werte und Grundlagen für das Zusammenleben zu erschließen, die für die Gestaltung einer Gesellschaft erforderlich sind. Das Zusammenleben ist von Spannungen und Konflikten begleitet, die nur zu überwinden sind, wenn die Menschen aufeinander zugehen, miteinander sprechen und sich um Verständigung und Annäherung bemühen. In diesem Artikel werden die im Koran begründete und Narrative aus der islamischen Tradition skizziert. In ihnen wird die islamische Zugänge zum Dialog mit Nichtmusliminnen und Nichtmuslimen aufgezeichnet.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus gesellschaftswissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Perspektive

Wechselwirkungen von Religion und Politik werden zumeist entlang von Themenfeldern bearbeitet. Während der staatlich-kirchliche Dialog Ergebnis einer langen Entwicklung ist und den Kirchen einen öffentlich-rechtlichen Status garantiert, ist der staatlich-muslimische Dialog und vor allem die konkrete praktische Ausgestaltung komplizierter und auch durch die Deutsche Islamkonferenz nicht wesentlich weiterentwickelt. Eine Erweiterung des christlich-islamischen Dialogs um das Handlungsfeld Politik wäre wünschenswert, zumal neueren Umfragen zufolge Muslime in Deutschland in überwiegender Mehrheit – mehr als der Gesamtteil der deutschen Bevölkerung – Demokratie für die beste Staatsform halten.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen und alevitischen Dialog aus alevitischer Perspektive

Der interreligiöse Dialog ist aus der Sicht der alevitischen Glaubenslehre ein Gebot und in einer multireligiösen Gesellschaft eine Notwendigkeit, um ein friedliches Zusammenleben für alle zu schaffen. Dafür findet man die nötige religiöse Grundlage in der alevitischen Glaubenslehre.
Das höchste Gebot der alevitischen Lehre ist die Akzeptanz. Im Alevitentum werden alle Menschen und Glaubensüberzeugungen als gleichwertig geachtet. Im alevitischen Gebetbuch „Buyruk – das Gebot“ wird dieser Begriff mehrfach mit der Formulierung betont: „Betrachte 72 Volksgruppen bzw. Religionsgemeinschaften als gleichberechtigt“ Dies ermöglicht den interreligiösen Dialog auf gleicher Augenhöhe.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus orthodoxer Perspektive

Die Beschäftigung orthodoxer Theologen mit dem Islam ist von einer Dialektik von Nähe und Distanz geprägt. Vor allem polemische Schriften, die im Vorderen Orient auf Arabisch verfasst wurden, weisen eine Vertrautheit mit dem Koran und muslimischen Bräuchen auf. Ihre Erfahrung, der Transfer von Wissen und ihre Übersetzertätigkeiten waren Gründe, warum die orthodoxen Christen eng in die jeweiligen muslimischen Reiche eingebunden waren, insbesondere im Millet-System des Osmanischen Reiches. Heute wird der Dialog des Lebens ergänzt durch einen theologischen Dialog, in dem beispielsweise die Unterschiede zwischen beiden Religionen innerhalb eines aus Gemeinsamkeiten bestehenden Konvergenzrahmens gedeutet werden und so Gemeinsamkeiten wiedergefunden werden können.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus evangelischer Perspektive

Im Hinblick auf einen speziell evangelischen Zugang zum christlich-islamischen Dialog legt es sich nahe, zunächst nach dem Verhältnis der Reformation zum Islam zu fragen. Eine gänzlich neue Sicht auf andere Religionen erbrachte die Zeit der Aufklärung, was sich aber erst schrittweise in den kirchlichen Positionen niederschlug. Speziell das Nachdenken über das Verhältnis zum Islam ist in der evangelischen Kirche relativ jung und mit der historischen Situation der Zuwanderung von Muslimen nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus katholischer Perspektive

Das Verhältnis von Christentum und Islam war angesichts der überraschenden Eroberungen seitens der muslimischen Araber nach dem Tode Muhammads von Anfang an schwierig, wobei man in der christlichen Welt diese Eroberer lange Zeit oder zumindest nicht primär gar nicht als Angehörige einer anderen Religion wahrgenommen hat. Erst allmählich kam zur militärischen Auseinandersetzung auch die theologische, und zwar in der unmittelbaren Begegnung mit Muslimen. Diese theologische Auseinandersetzung war von Polemik und Verteidigung des eigenen Glaubens geprägt. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts und vor allem mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden auf katholischer Seite die Bahnen des Dialogs, einer unvoreingenommeren Wahrnehmung und wertschätzenden Haltung geebnet.

mehr lesen

Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus religionsgeschichtlicher Perspektive

Dieser Artikel betrachtet den christlich-islamischen Dialog aus religionswissenschaftlicher Perspektive und grenzt sich von der theologischen Perspektive ab, die sich auf den Wahrheitsanspruch der Religionen fokussiert. Ein knapper Rückblick auf die Geschichte der gegenseitigen Wahrnehmung zeigt, dass die theologischen Auseinandersetzungen beider Religionen nicht immer dialogisch geprägt waren. Aus der Entstehungsgeschichte des Christentums und des Islams wird deutlich, dass sie sich auf ihre Vorläuferreligionen beziehen, sich mit diesen inhaltlich auseinandersetzen und sich teilweise in Abgrenzung zu ihnen definieren, was den interreligiösen Dialog bis heute erschwert. Im Gegensatz zur theologischen Perspektive formuliert die Religionswissenschaft keinen Wahrheitsanspruch und ist nicht an Dogmen gebunden, sondern kann den interreligiösen Dialog begleiten und ihn aus verschiedenen Perspektiven analysieren.

mehr lesen