Einleitung
In der islamischen wie der christlichen theologischen Tradition und Religionskultur lassen sich Religion und Politik zwar unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Beide Religionen verstehen sich immer auch als öffentliche Manifestation. Wer sie dialogisch aufeinander beziehen will, kommt daher nicht daran vorbei, nach der Politik in der Religion und der Religion in der Politik zu fragen und nach den Wechselwirkungen, die das Eine mit dem Anderen verbinden.
Gesellschaftswissenschaften und ihre Zugänge zur politischen Dimension des interreligiösen Dialogs
Stefan Huber beschreibt im Begleitbuch des Religionsmonitors 2008 die Auswirkungen der Religiosität auf den Lebensbereich „Politik“ mit der Metapher der „Blackbox“. Deren innere Funktionsweise habe für die Sozialforschung keine theoretische und methodische Relevanz. Dem entspricht das Befragungsergebnis der Untersuchung. Zwei Drittel der im deutschsprachigen Raum Befragten gaben an, dass Religiosität keinen oder höchstens einen geringen Einfluss auf ihre politischen Einstellungen habe. Bei nur 14 Prozent wird eine hohe politische Relevanz des Religiösen festgestellt.
Die Religionssoziologie hat seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert dem Zusammenhang von Religion und Politik allerdings hohe Aufmerksamkeit gewidmet. Die ersten Soziologen waren fast alle auch Religionssoziologen. Max Weber etwa hat seine Religionssoziologie auf dem Hintergrund einer Typologie von Herrschaftsformen entwickelt und den religiösen Akteuren große politische Wirkungsmacht zugesprochen. Dagegen begründeten für ihn Rationalität, „Entzauberung der Welt“ und Säkularisierung das moderne Gegenprogramm zum Anspruch besonders der monotheistischen Religionen auf Politikgestaltung. Pierre Bourdieu stellte den politischen Gestaltungsanspruch religiöser Akteure in ein gesellschaftliches Konkurrenzverhältnis um kulturelles / religiöses und politisches Kapital. Bei Weber wie bei Bourdieu stehen die ethischen bzw. habitusbildenden Merkmale der jeweils gesellschaftlich dominanten Religionskulturen mit ihren intrareligiösen Ausdifferenzierungen in Wechselwirkung mit extrareligiösen Einflüssen, besonders der Politik, im Focus der Betrachtung.
Dialogisch bestimmte Beziehungen zwischen den Religionen und der Politik sind nicht ausgeblendet, werden aber in der soziologischen Betrachtung nicht zum zentralen Gegenstand. Sie richtet sich auf politische Herrschaftsformen und ihre Beeinflussung durch spezifische religiöse Deutungstraditionen und Akteure. An dieser Betrachtungsweise änderte sich mit der Zunahme der Religionspluralität in den europäischen Gesellschaften wenig. Der interreligiöse Dialog zwischen christlichen und islamischen Orientierungen findet kaum Eingang in religionssoziologische Analysen. Die Voraussetzung der Säkularisierungsthese lässt die Religionen eher als widerständige Störfaktoren in einer politischen Landschaft erscheinen, die Modernität mit säkularem Habitus gleichsetzt, und den interreligiösen Dialog mehr als eine um Glaubenswahrheiten kreisende und weniger als eine gesellschaftspolitische Aufgabe ansieht.
Auch auf die gemeinschaftsbildende Rolle von Religionen bezogene Ansätze, die etwa der Soziologie von Ferdinand Tönnies oder Emile Durkheim oder in jüngerer Zeit der Wissenssoziologie von Thomas Luckmann und Peter L. Berger folgen, betrachten Religionen im Hinblick auf ihre politischen Dimensionen eher je für sich, als dass sie ihr Verhältnis untereinander zum Thema machten oder diesem Verhältnis gar dialogische Qualitäten zuschreiben. Wo religiöse Pluralität zum Thema wird, geschieht das vornehmlich auf der Ebene kulturwissenschaftlich funktionaler Betrachtung. Dabei aber werden die spezifischen religiösen Inhalte eher um den Preis des Verlustes ihres jeweiligen Eigensinns eingeebnet. Religionen sind hier kulturelle Erscheinungen und allgemeineren politisch-kulturellen Entwicklungen zu- und untergeordnet.
Insbesondere wissenssoziologisch begründete kulturwissenschaftliche Zugänge reduzieren die gesellschaftlich-politische Rolle der Religionen auf ihre Funktion für Integrations- und Desintegrationsprozesse in der gesellschaftlichen Entwicklung und politischen Systemen. In den Focus geraten daher eher fundamentalistisch-religiös begründete politische Positionierungen. Der Alltag religiöser Lebenswelten mit seinen pragmatischen inter- und transreligiösen Beziehungsgeflechten ist weit weniger Gegenstand des Interesses als das Konfliktverhalten, das sich durch soziale und politische Aus- und Abgrenzung in sogenannten Parallelgesellschaften ausprägt und sich den allgemein geforderten Integrationsprozessen verweigert. So unterliegen auch die religiösen Orientierungen in ihren Wechselwirkungen mit der Politik einem grundsätzlichen Ideologieverdacht. Als Ursache dieser ideologischen Prägung werden die jeweiligen religiösen Wahrheitsansprüche angesehen.
Der Soziologe Ulrich Beck (vgl. Die Zeit, 52, 19.12.2007) hat daher gefordert, den Dialog der Religionen nicht länger am Wahrheitskriterium, sondern am Kriterium des Friedens auszurichten. Die Frage, inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden könne, entscheide über die Fortexistenz der Menschheit. Damit weist er den Religionen und auch dem christlich-islamischen Dialog zwar eine besonders hohe politische Erwartung zu. Aber die Hoffnung darauf, dass diese auch eingelöst würde, hält er für das Naivste, Törichteste und Absurdeste, was man hoffen könne.
Politik, Religionswissenschaften, Theologien und der interreligiöse Dialog
Eröffnen aber nicht die Wissenschaften, die die religiösen Orientierungen direkt zu ihrem Gegenstand machen, inhaltlich produktivere Zugänge auch zur politischen Dimension eines christlich-islamischen Dialogs? Dem ist nur bedingt so. Zwar stellt die Religionswissenschaft den Vergleich religiöser Verhaltensweisen in das Zentrum ihres Interesses. In jüngster Zeit werden dafür verstärkt ethnologische und sozialwissenschaftliche Methoden genutzt. Dies zielt jedoch zuallererst auf die Religionskulturen im engeren Sinne (Rituale, Liturgien und religiöse Lebenspraxis) und kaum auf politische Auswirkungen religiös bestimmten Verhaltens. Ein Referenzrahmen für eine vergleichende dialogische Bearbeitung des Verhältnisses zwischen den Religionen unter Einschluss der politischen Auswirkungen religiösen Verhaltens ist daraus kaum zu gewinnen.
In den Theologien christlichen wie islamischen Zuschnitts – soweit sie sich mit dem Verhältnis von Politik und Religion beschäftigen – hat der an den Wechselwirkungen interessierte Dialog zwischen den Religionen und mit der Gesellschaft seine systematische Entdeckung noch immer vor sich. Theologien verfügen zwar über die am stärksten ausgeprägte hermeneutische Nähe zu religiöser Weltdeutung. Sie ist jedoch per se durch die spezifische Religion geprägt, auf die sie sich beziehen. Inwieweit die religiöse Pluralität und das (dogmatische) Selbstverständnis einzelner Religionen so aufeinander bezogen werden können, dass dieses Spannungsverhältnis als Ausgangspunkt für die Begründung und die wissenschaftliche Begleitung interreligiöser Dialoge theoretisch und empirisch fruchtbar werden kann, ist systematisch allenfalls ansatzweise gelungen. Wechselwirkungen von Politik und Religion werden eher in allgemeinerer Form entlang von Themenfeldern wie Frieden, Toleranz, Gerechtigkeit und Religionsfreiheit bearbeitet.
Dieser Befund, wenn er in der Tendenz richtig beobachtet ist, verweist auf ein Defizit in der wissenschaftlichen Begründung des Christlich-Islamischen Dialogs. So hat dieser Dialog zwischen christlichen und islamischen Glaubensorientierungen seinen Ort bisher auch weniger in den einschlägigen Wissenschaften, sondern eher unmittelbar in der Lebenswelt der religiösen Akteure, die sich als Teil der Zivilgesellschaft begreifen, sowie in der Auseinandersetzung über praktische Theologie zwischen den organisierten Glaubensgemeinschaften und auf dem Feld gesetzlicher Regelungen zwischen dem Staat und den Repräsentanten der Religionen.
Religionspolitik – Wechselwirkungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften
Ein gemeinsamer christlich-islamischer Dialog mit dem Staat existiert auf der Bundesebene in Deutschland nicht. Wohl aber gibt es getrennte christliche und islamische Dialogverhältnisse mit staatlichen Institutionen, die unterschiedliche Entstehungsbedingungen und gesetzliche Ausprägungen haben. Der Dialog zwischen staatlichen Behörden und den christlichen Kirchen ist eingebunden in die jahrhundertelange Entwicklung und Kodifizierung des Staats-Kirchen-Verhältnisses. Es stellt eine geregelte vertragliche Beziehung dar, die die wesentlichen institutionellen Berührungspunkte umfasst und den Großkirchen einen öffentlich-rechtlichen Status sui generis garantiert.
Genau dies gilt für islamische Religionsgemeinschaften nicht. Sie sind auf unterschiedlichen Ebenen vereinsrechtlich organisiert und so oft der Frage nach ihrer repräsentativen Reichweite ausgesetzt, zumal formale Mitgliedschaftsverhältnisse traditionell und vom Selbstverständnis des Islam her geringer ausgeprägt sind, als es die formelle Zugehörigkeit bei den Kirchen ist. Die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland 2020“ im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz geht von etwa 5,5 Millionen muslimischen Religionsangehörigen aus. Das sind rund 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Annähernd die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft.
Generell gilt auch für den muslimischen Bevölkerungsanteil das durch die Verfassung garantierte Recht auf Religionsfreiheit. Seiner praktisch-politischen Ausgestaltung mangelt es jedoch an allgemein anerkannter und staatlich ausgewiesener Konkretion. In einzelnen Konfliktfeldern (Kopftuch, Schächtung, Beschneidung, Bau von Moscheen) existiert inzwischen eine Rechtsprechung, die sich an verfassungsgerichtlichen Urteilen orientiert. Die allgemeine öffentlich-rechtliche Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften auf Bundesebene ist damit jedoch nicht verbunden. Auf Länderebene allerdings erhielt 2013 im Bundesland Hessen und 2014 in Hamburg die Gemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) als erste den Status einer Religionsgemeinschaft des Öffentlichen Rechts. Versuche anderer islamischer Religionsgemeinschaften und ihrer Dachverbände in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein- Westfalen scheiterten vor der parlamentarischen Inkraftsetzung und ruhen seither.
Unterhalb der Situation auf der Bundesebene entwickelte sich auf kommunaler und Länderebene und im Verhältnis zu anderen öffentlich-rechtlichen Institutionen jedoch ein Beziehungsgeflecht von Verträgen, Vereinbarungen und gesetzgeberischen Maßnahmen. Dazu gehören Regelungen für Vertretungen in Rundfunkräten, Vereinbarungen zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und Institute für islamische Theologie, zur Ausbildung von Religionslehrer:innen an Hochschulen und zum Bau von Moscheen sowie für außerschulische islamische Bildungseinrichtungen.
Der Prozess der Einführung islamischen Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen erwies sich mit seinen infrastrukturellen Voraussetzungen wie der Entwicklung von Curricula und der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung als eine Art Übungsfeld nicht nur pädagogischer Art, sondern auch für die Gestaltung der religionspolitischen Kommunikation und die strukturelle Entwicklung des Verhältnisses zwischen den islamischen Glaubensgemeinschaften und staatlichen Organen. Die damit verbundenen Dialoge konnten auf Erfahrungen aus zumeist erfolgreichen Modellprojekten zurückgreifen. Die Vereinbarungen sind in den einzelnen Bundesländern zwar unterschiedlichen Zuschnitts, führten in der Regel jedoch zu Formen ihrer praktischen Institutionalisierung.
Islamische Selbstorganisation und Deutsche Islamkonferenz
Was diese unterschiedliche Praxis der institutionellen Anerkennung an Problemanzeigen hervorbrachte, hatte auch Rückwirkungen auf die Art der Selbstorganisation islamischer Verbände. Die wohl wichtigste Reaktion ist der Zusammenschluss der größeren islamischen Organisationen wie Diyanet İsleri Türk İslam Birligi (DITIB), Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Dieser Koordinationsrat der Muslime in Deutschland(KRM) wurde im März 2007 gegründet (▸ Muslimische Akteure). Sein Ziel war es vor allem, einen gemeinsamen Ansprechpartner gegenüber dem Staat zu schaffen. Denn auf staatlicher Seite wurde im September 2006 seitens des zuständigen Bundesinnenministeriums die Deutsche Islamkonferenz (DIK) neben einem Integrationsgipfel -als Forum des politisch-religiösen Dialogs ins Leben gerufen. Dabei stellte sich schnell heraus, dass sowohl bezüglich der Berufung und der Zusammensetzung der Gremien als auch der Inhalte dieses Dialogs sehr unterschiedliche und zum Teil unvereinbare Erwartungen aufeinander trafen.
Auf Seiten der einladenden staatlichen Akteure stand die späte Einsicht aus der Integrationsdebatte Pate, dass der Wahrnehmung der Religionskultur muslimischer Zuwanderer im Hinblick auf gesellschaftliche Integration mindestens ebenso hohe Priorität eingeräumt werden müsse, wie den eher säkularen Faktoren wie Sprache, Bildung und Erwerbschancen. Die Ausklammerung religiöser Praxis und Alltagskultur begünstige sonst eine gesellschaftliche Selbstexklusion bis hin zu extremem politischen Verhalten.
Die islamischen Religionskulturen staatlich zugeschriebenen Verhaltensweisen von der Verweigerung der Teilnahme an Sport- und Schwimmunterricht bis hin zu Klassenausflügen stellten sich anhand einschlägiger Untersuchungen allerdings in der Regel als Randphänomene heraus. Auch das Verlangen nach dem Bekenntnis zur Verfassungstreue von muslimischen Verbänden stand auf der Agenda der staatlichen Behörden. Das folgte offensichtlich einer Grundlinie, die der Prävention gegen Extremismus, Radikalisierung und gesellschaftliche Polarisierung zentralen Stellenwert einräumte. Besonders bei den Verbänden stieß es auf massiven Widerspruch. Sie sahen darin den Ausdruck eines grundsätzlichen politischen Generalverdachtes gegen ihre Religion. Schon von Beginn an waren auch Vertreter und Vertreterinnen sich als säkular verstehender Muslime als Einzelpersonen eingeladen, die den religionspraktischen Ansprüchen der Verbände eher kritisch gegenüber standen.
Diese Ausrichtung der Agenda und die personelle Zusammensetzung der Konferenz wurden von den Verbandsvertretern als Affront gegen die eigene Erwartung gewertet. Für sie sollte die Islamkonferenz zuallererst ein Medium zur Klärung der öffentlichen Anerkennung islamischer Glaubensgemeinschaften sein und der Ausarbeitung eines künftigen allgemeinen Religionsrechtes dienen. Neben den christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften sollte es die islamischen einschließen und so eine Weiterentwicklung des existierenden Staatskirchenrechtes einleiten. Solche Erwartungen von Seiten der Verbände erwiesen sich jedoch in den stattfindenden Diskussionen als nicht kompatibel mit den Intentionen der staatlichen Akteure. Einige Verbände kündigten daraufhin ihre Teilnahme ganz oder teilweise auf. So bewegte sich der Dialog entlang der Unvereinbarkeiten von Absichten und Zielen, die die unterschiedlichen Akteure mit ihm verbanden und konzentrierte sich dann schließlich unterhalb der Schaffung eines allgemeinen Religionsrechts auf spezielle Projekte und Einzelfragen.
Gefühlte und erhobene Wirklichkeiten
Die Gesellschaftwissenschaften brachten neben Untersuchungen zur islamischen religiösen Alltagskultur auch demografische Repräsentativbefragungen zum Verhältnis der muslimischen Bevölkerung zur politischen Kultur insgesamt hervor. Umfragen, wie z.B. der Gallup Coexist Index 2009, die Untersuchung zu Sinus-Migrantenmilieus in Deutschland oder der Bertelsmann Religionsmonitor 2013, wiesen dabei ein in den Grundaussagen ziemlich kohärentes Bild gerade beiden Wechselwirkungen zwischen religiöser Orientierung und politischer Einstellung aus.
Muslime bewerteten ihren gesellschaftlichen Integrationsgrad höher als es die deutsche Gesamtbevölkerung tat. Durch einen anderen Glauben fühlten sich Muslime weniger bedroht, als dies bei Christen und Säkularen der Fall war. Auch der Grad der Identifikation mit ihrer Religion lag höher, als der der Christen mit der ihren. Die Identifikation mit Deutschland erwies sich bei beiden als etwa gleich. Doch die Loyalität zu Deutschland wurde von Muslimen fast doppelt so hoch bewertet, wie von der Bevölkerung insgesamt. Dies galt auch für das Vertrauen in die Regierung. Der Aussage, politische Partizipation sei notwendig für die Integration, stimmen weit mehr der Muslime zu, als der Durchschnitt der Bevölkerung, ebenso der Ansicht, dass Menschen anderen Glaubens mit Respekt behandelt werden sollten. Wie immer man diese Befragungen in ihrer Aussagekraft auch einschätzen mag, so zeigten die wissenschaftlichen Annäherungen doch einen deutlichen Kontrast zu den gefühlten Wirklichkeiten in der allgemeinen öffentlichen Debatte.
Milieubezogene Erhebungen untersuchten darüber hinaus die Prägekraft von Faktoren wie ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. Im Ergebnis wurden sie als wenig milieuprägend und auf Dauer auch nicht als identitätsstiftend eingeschätzt. Nur in einem von acht untersuchten Milieus spielte Religion im Rahmen eines stark rural-traditionellen und von autoritärem Familismus geprägten Wertesystem eine alltagsbestimmende Rolle. Die große Mehrheit der Migrantenmilieus sah Integration als kein dringliches Thema mehr an. Verhaltensmuster, in denen Leistung und gesellschaftlicher Aufstieg dominieren, seien bei Migranten sogar deutlicher ausgeprägt als bei der Bevölkerung insgesamt.
Bezogen auf das Verhältnis von Religion und Politik werden deren institutionelle Trennung wie auch die Regierungsform der Demokratie über die Glaubensrichtungen hinweg als hohes Gut akzeptiert. Religionsgemeinschaften spielen für die gesamtgesellschaftliche Wertevermittlung eine geringere Rolle als Familie, Schule und Freundeskreis. Der Wertewandel, der generationenübergreifend stattfinde, unterscheide sich nach Religionszugehörigkeit wenig.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte 2011 eine Untersuchung zu „Muslime in der deutschen Gesellschaft – eine Zielgruppe politischer Bildung“, in der festgestellt wird, dass zwischen 62 und 79 Prozent der muslimischen Bevölkerung ihr größtes Vertrauen in Hochschulen und das Verfassungsgericht setzen. Im mittleren Vertrauensbereich bewegen sich das Gesundheitswesen, Stadt- und Gemeindeverwaltungen, die Bundesregierung, die EU-Kommission und das EU-Parlament, im unteren Bereich der Bundestag, Fernsehen, Zeitungswesen und die Politischen Parteien. Ihr Interesse an Politik bewerteten 14 Prozent als stark oder sehr stark, 34 als mittelstark, und wenig bis kein Interesse gaben 51 Prozent an. Dies spiegelt sich als Tendenz auch in der Wahlbeteiligung der Muslime.
Das Allensbacher Institut für Demoskopie führte im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2021 eine Umfrage unter den eingebürgerten Muslimen im Verhältnis zur Allgemeinbevölkerung durch. Darin hielten 81 Prozent die Demokratie für die beste Staatsform gegenüber 70 Prozent bei der gesamten Bevölkerung. 53 Prozent der Muslime sind mit dem Funktionieren des politischen Systems in Deutschland sehr zufrieden. Dies trifft nur für 26 Prozent der Gesamtbevölkerung zu.
Auf dem Hintergrund solcher Ergebnisse wird die bisherige Integrationsdebatte mit ihrer starken Fixierung auf den Aspekt von Sicherheit der bisherigen politischen Anerkennung des muslimischen Beitrages zur gesellschaftlichen Entwicklung kaum gerecht. Auch das Paradigma „Integration“ greift zu kurz. Seine Ablösung durch ein umfassenderes der „Partizipation“ käme den anstehenden politischen Gestaltungsnotwendigkeiten sehr viel näher.
Zu einem solchen erweiterten Paradigma gehörte es auch, die politische Relevanz des Dialogs zwischen den Religionen bewusster wahrzunehmen, vor allem in der Politik aber auch bei den religiösen Akteuren selbst. Der Christlich-Islamische Dialog müsste sich um jene Aspekte erweitern, die die gemeinsame gesellschaftliche Rolle beider Religionen für die Gestaltung ihres Verhältnisses zum Staat adressieren. Gleichzeitig sollten die politischen Akteure religiös begründeten politischen Verhaltensweisen in den beiden Religionen inhaltlich mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Erst dann können sie den lebensweltlichen Ansprüchen, die sich als Anforderungen an die Politik artikulieren, verstehend gerecht werden.
Zum Weiterlesen
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.), Muslimisches Leben in Deutschland 2020
Kreienbrink, Axel / Bodenstein, Mark (Hg.) im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Muslim Organisations and the State – European Perspectives. Beiträge zu Migration und Integration Bd. 1, Nürnberg 2010
Riem Spielhaus: Wie steht es um die rechtliche Anerkennung des Islam? Expertise für den Mediendienst Integration, 2020 https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Rechtliche_Anerkennung_des_Islams.pdf
Fritz Erich Anhelm / Bernhard Dressler (Hg.), Islamischer Religionsunterricht in Niedersachsen. Perspektiven seiner Einführung. Loccumer Protokolle 91/02
Meyer, Lidwina (Hg.), Recht, Religion, Politik. Auf dem Weg zu einer Anerkennung des Islam in Deutschland. Loccumer Protokolle 17/05
Müller, Marion / Zifonun, Darius (Hg.), Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration, Wiesbaden 2010
Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der FAZ, Aug.2021 https://www.migazin.de/2021/08/26/umfrage-muslime-sehen-demokratie-positiv
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Muslime in der deutschen Gesellschaft – eine Zielgruppe politischer Bildung? Konrad-Adenauer-Stiftung 106/2011