Islamisch-theologische Begründung für den Dialog zwischen Christen und Muslimen
Die Grundlage der islamischen Lehre ist der Koran, der nach der Überzeugung der Muslime das offenbarte Wort Gottes an den Propheten Muhammad darstellt. Im Koran ist oft die Rede von sprechen, fragen, antworten und verstehen. Gott spricht durch den Koran mit den Menschen, verkündet seine Nähe und Zuwendung und fordert sie auf, ihn anzurufen (vgl. Sure 2,186; 2,215; 27,62; 40,60). An einigen Stellen wird durch Erzählungen erläutert,wie der Mensch durch Fragen und das Bemühen um Verstehen seinen Glauben stärken kann. Die Fragen nach Sinn und Zweck des Lebens, unbekannten Welten, dem Leben nach dem Tod und die Frage nach dem „Woher“ und „Wohin“ beschäftigen die Menschen vermutlich seit Beginn ihres Daseins. Die Antworten der Religionen auf diese Fragen sind vielfältig; Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Überzeugungen kommen miteinander ins Gespräch, wenn sie voneinander wissen und womöglich nebeneinander in einer Gesellschaft leben.
Zu Zeiten der Offenbarung des Koran (610–632 n.Chr.) waren die Muslime in Mekka und Medina, den Orten der Offenbarung, in Kontakt mit anderen Religionen – durch Handel oder auch durch direkte Nachbarschaft vor allem mit den jüdischen und christlichen Stämmen, die in dieser Region lebten. Der Koran bietet sowohl die Grundlage für Toleranz und Akzeptanz als auch für Ablehnung und Zurückweisung. Dadurch, dass der Koran in einem historischen Kontext entstanden ist, können die ambivalenten Aussagen nur im Zusammenhang mit den Ereignissen erschlossen werden, die die Lebensrealität der Menschen in der damaligen Zeit waren. Die Erfahrungen und Erlebnisse sowie Bräuche, Gewohnheiten und Gesetzmäßigkeiten damaliger Zeit sind zu berücksichtigen, wenn man den Koran verstehen will.
Der Vers 48 in Sure 5 bietet zum einen die Grundlage für die Vielfalt der Wege als „Plan Gottes“ für die Schöpfung und zum anderen warnt er vor dem Streit um die Wahrheit:
„Und auf dich [Muhammad] sandten Wir herab das Buch mit der Wahrheit; es bestätigt, was von dem Buch schon vorher da war, und gibt darüber Gewissheit. So richte zwischen ihnen nach dem, was Gott herab gesandt hat, und folge ihren Neigungen nicht, wenn es von dem abweicht, was von der Wahrheit zu dir kam! Für jeden von euch haben Wir Bahn und Weg gemacht. Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart.“ (Übersetzung nach Bobzin)
Dieser Vers wird als Bejahung der Vielfalt gedeutet, er steht allerdings auf den ersten Blick im Widerspruch zu einigen anderen Versen, z. B. 19 und 85 in Sure 3. In diesen beiden Versen wird der „Islam“ als einziger von Gott anerkannter und angenommener Lebensweg bezeichnet. Die Frage ist, wie diese Verse zueinander in Beziehung stehen: auf der einen Seite Akzeptanz der Vielfalt und auf der anderen Seite Anerkennung des Islam als einzig richtigem Weg. Die Deutung des Begriffes „Islam“ ist eine Antwort auf diese Frage. Islam bedeutet in der arabischen Sprache die Hingabe / Hinwendung zu Gott, unabhängig von Religion und Konfession. Im Koran steht dieser Begriff nicht als Bezeichnung für eine Religion, die erst durch den Propheten Muhammad verkündet wurde. In diesem Sinn ist er ein Lebensweg, der am Glauben an den einen einzigen Gott als Schöpfer und Erhalter der Schöpfung orientiert ist. Diese Definition ist einigen Stellen im Koran zu entnehmen, wenn z. B. die Propheten und Gesandten, die vor dem Propheten Muhammad aufgetreten sind, als „Muslime“ – als Gottergebene – bezeichnet werden (vgl. Sure 2,133. 136; 3,84; 29,46; 3,67).
Die Beziehung zu Christen im Koran
Die Christen werden im Koran der Gruppe der ahl al-kitāb (Leute der Schrift) zugeordnet. In Sure 29,46 werden der Prophet Muhammad und die Muslime aufgefordert, mit den Leuten der Schrift in „schöner Art“ Streitgespräche zu führen und sie auf das Verbindende hinzuweisen: „Wir glauben an das, was auf uns herab gesandt und was auf euch herab gesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist Einer und Ihm sind wir ergeben.“
Die Anerkennung der Schriftbesitzer findet sich in besonderer Weise in Sure 10 Vers 94, in der der Prophet Muhammad ermutigt wird, wenn er im Zweifel ist, das Gespräch mit denjenigen zu suchen, die bereits die Offenbarung erhalten haben: „Und wenn du an dem zweifelst, was Wir dir offenbart haben, frage diejenigen, die das Buch vor dir lasen. Bestimmt ist die Wahrheit zu dir von deinem Schöpfer und Erhalter gekommen, darum gehöre nicht zu den Zweiflern.“
Der Koran zeigt Anerkennung und Wertschätzung gegenüber dem Christentum, es gibt aber auch Textstellen, die Christen anprangern, weil sie die Lehre Jesu verfälscht hätten. Die Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes und die Lehre vom dreieinigen Gott geht nach koranischer Auffassung auf die Vorstellung der Anhänger des Christentums zurück, sie stammt nicht von Jesus selbst. Von dieser Auffassung ausgehend, der die Christologie der damaligen Christen auf der arabischen Halbinsel zugrunde liegt, werden die Christen an einigen Stellen im Koran zurechtgewiesen und aufgefordert, die Wahrheit zu sprechen (vgl. Sure 4,171–172). Ebenso sind die Kreuzigung und die damit verbundene Lehre von der Erlösung der Menschen durch Jesu Tod ein strittiges Thema, das von Muslimen ebenfalls als eine Verfälschung des wahren Glaubens von Jesus verstanden wird. Diese Auffassungen vom Christentum können verallgemeinert werden und dahin führen, dass manche Muslime alle Christen als „Verleugner“ bzw. „Ungläubige“ bezeichnen, die die „ursprüngliche” Lehre Jesu nicht befolgen. Auch wenn die koranische Kritik nicht auf alle Christen zutrifft und diese Stellen nur im Kontext der Offenbarungszeit zu lesen sind, stellen sie doch ein Potenzial für die Verallgemeinerung und ein daraus hervorgegangenes „muslimisches“ Verständnis von Christentum dar, das nicht dem Selbstverständnis der Christen entspricht.
Begegnung und Dialog in frühislamischer Zeit
Der Prophet Muhammad und seine Anhänger waren in Mekka den Feindseligkeiten ihrer Gegner ausgesetzt, so dass er im Jahr 5 nach seiner Berufung (615 n.Chr.) den Muslimen anbot, nach Abessinien auszuwandern, wenn sie die Lage in Mekka nicht mehr ertragen könnten. Er begründete seine Entscheidung damit, dass der König in Abessinien ein gläubiger Christ und ein gerechter Herrscher sei (vgl. Rasul / Hashim, 1996, 83). Die Begegnung zwischen den Muslimen und dem König kann als ein erster Dialog mit Christen in der islamischen Geschichte verstanden werden. Er gewährte den Muslimen Schutz, auch nachdem ihn die Machthaber in Mekka durch Intrigen umzustimmen versucht hatten. Der König hörte die Muslime an und als sie ihm aus dem Koran Verse über Maria und Jesus zitiert hatten, soll er gesagt haben: „Dies kann aus derselben Quelle wie das, was Jesus brachte, gekommen sein“ (vgl. Lings, 2013, 119). Aus dieser Begebenheit kann ein Dialogmodell entwickelt werden, das von gegenseitiger Anerkennung, Wertschätzung und Achtung geprägt ist. Die gemeinsamen Glaubensprinzipien können als Grundlage der Begegnung ermöglichen, die Not und die Bedrängnis der anderen zu erkennen und ihnen solidarisch Hilfe zu gewähren. Die Religionen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sie sind unterschiedliche Wege, die die Menschen zum Ziel ihres Lebens führen. Aus tiefem Glauben an Gott und Vertrauen zu ihm gehen beide Parteien – eingewanderte Muslime und christlicher König – aufeinander zu. Sie entdecken die Gemeinsamkeiten in der Tradition und Lehre, erkennen die Unterschiede an und erweisen einander Respekt. Sie sind jeweils standhaft in ihrem Glauben und können sich ohne Angst und Sorge um Selbstaufgabe begegnen und miteinander leben.
Ein weiteres Modell für eine sensible Begegnung ist die Handlungsweise des zweiten Kalifen Umar, als er im Jahr 635 n.Chr. Jerusalem eroberte. Er weigerte sich, in der Auferstehungskirche zu beten, obwohl er als Sieger dies fordern und durchsetzen konnte. Auf die Frage des Patriarchen, der ihn bat, dort zu beten, antwortete er: „Wenn ich im Inneren der Kirche gebetet hätte, wäre diese für dich verloren gewesen und aus deinen Händen genommen, denn nach meinem Tod hätten die Muslime sie in Besitz genommen und gesagt: ‚Omar hat hier gebetet‘, und dies könnte eine Übernahme der Kirche legitimieren.“ (Zitiert nach Tamcke, 2008, 97) In dieser Erzählung wird deutlich, wie es möglich ist, in der Position der Überlegenheit die eigenen Interessen und Vorteile zurückzustellen und sensibel für die Verletzbarkeit der Schwächeren zu sein.
Begegnung in Andalusien und das Haus der Weisheit in Bagdad
„Das islamische Spanien und der mit ihm verbundene Maghreb bildeten für Jahrhunderte ein höchst fruchtbares Zentrum der Weltkultur, in der orientalische und griechische Traditionen ineinander verwoben, weiterentwickelt und schließlich in das christliche Europa und später nach Amerika weitergetragen wurden. […] Offenbar war das Zusammentreffen christlicher, jüdischer und islamischer Kulturen mit der Polyglottie, in denen Arabisch, Romanisch, Berber, Hebräisch, Griechisch, Slawisch und Germanisch gesprochen wurde, ein fruchtbarer Nährboden im Wettstreit der verschiedenen Religionen, Philosophien und Literaturen.“ (Brentjes, 1989, 180) Diese Auffassung von einer Zeitepoche von ca. 800 Jahren bezeichnet die Möglichkeit des Dialogs und des Zusammenwirkens der Religionen. In dieser Ära der muslimischen politischen Macht kommt die Wertschätzung des Wissens im Islam konstruktiv und nachhaltig zum Tragen. Die Bedeutung des Aneignens von Wissen ist Gegenstand zahlreicher koranischer und überlieferter Aussagen. Unter den Kalifen gab es auch Gelehrte, die Förderer der Entfaltung und Entwicklung des Wissens waren.
Unter dem Abbassiden-Kalifen al-Ma’mun (Regierungszeit 813–833) wurde das „Haus der Weisheit“ in Bagdad eingerichtet. Von Ma’mun ist bekannt, dass er der Wissenschaft keine Grenzen setzte, besonders keine religiösen Grenzen. Er ermutigte Menschen zu forschen und stand für freie ernsthafte Wissenschaft (vgl. Serauky, 2004, 37). Bereits in dieser Epoche legte er als Kalif fest, dass der Koran erschaffen sei, und damit rückte er „entschieden von der islamischen Orthodoxie ab, die am Wortsinn des Koran und seiner ewigen Natur festhielt. Eine Allmacht der Vernunft sollte uneingeschränkt herrschen“ (vgl. Serauky, 2004, 38). Es wurden zahlreiche Bücher zu allen Wissensbereichen geschrieben, und die Bibliothek in Bagdad wurde der Kernpunkt vielfältiger Forschungsaktivitäten. Es entstanden weitere Bibliotheken und Forschungszentren, in denen hauptsächlich jüdische, christliche und muslimische Wissenschaftler diskutiert, geschrieben und geforscht haben.
In Tripolis existierte eine Bildungsstätte mit einer großen Bibliothek, die 100.000 Bände aus allen Fachgebieten enthielt. Sie war Tag und Nacht geöffnet und in ihr arbeiteten 180 Kopisten, um Abschriften der gewünschten Werke anzufertigen. Die Gelehrten unterschiedlicher Religionen unternahmen weite Wege, um nach Tripolis zu gelangen; hier gab es kaum Konflikte zwischen ihnen oder innerhalb der islamischen Richtungen, und jeder konnte studieren, was er wollte.
Von Thomas von Aquin ist bekannt, dass er in seinen Argumentationen für die Disputation der Vertreter der christlichen Theologie mit den nicht-christlichen Religionen, insbesondere mit dem Islam, auf die Weisheitslehre von Aristoteles zugriff, die er u. a. auch durch die Kommentare von Avicenna und Averroes kannte (vgl. Lutz-Bachmann / Fidora, 2004, 100).
Übersetzerschule von Toledo
Toledo, das von Alfons VI. 1085 aus maurischer Hand zurückerobert wurde, war längst zum Inbegriff der Toleranz und des toleranten Miteinander der drei großen Religionen im Mittelalter geworden. Seine große Übersetzerschule war bekannt, hier wurden vor allem ab dem 12. Jahrhundert die griechischen Werke hauptsächlich ins Arabische, die Sprache der Wissenschaft in der damaligen Zeit, übersetzt und von dort wiederum ins Lateinische und Kastilische, wobei Mozaraber (arabisierte Christen) und Juden eine große Rolle spielten.
Abraham bin Daud etwa war ein bekannter jüdischer Philosoph, der in drei Büchern Fragen der Physik, Metaphysik und der Psychologie aus aristotelischer und avicennischer Perspektive behandelte und am Ende jedes Kapitels durch Schriftzitate die Übereinstimmung der Philosophen mit der geoffenbarten Wahrheit aufzeigte. Den Bezug der Religion zur philosophischen Vernunft fand Abraham bin Daud nicht nur im jüdischen Gesetz, sondern auch als ein Charakteristikum einer jeden Religion:
„Die Religionen bestehen teils bloß in allgemeinen Gesetzen, wie sich die Logiker ausdrücken, oder in Vernunftgesetzen nach der Sprache der Dialektiker; weil ihre Lehren ähnlich den Prinzipien des Denkens allgemeine Wahrheiten enthalten; z. B., dass die Rechtlichkeit gut, die Ungerechtigkeit schlecht, die Dankbarkeit sittlich, die Treulosigkeit unsittlich sei; und teils in Überlieferungen nach dem Ausdrucke der Logiker, oder nach dem Dialektiker in positiven Geboten, also z. B. den Sabbat zu beachten, kein Schweinefleisch essen etc. In den Vernunftgeboten unterscheidet sich keine Nation von anderen. […] Durch die Vernunftgebote werden Menschen, die sonst von den verschiedenen Ansichten beherrscht werden, vereinigt, weil hinsichtlich jener alle Nationen übereinstimmen. Daher kommt es, dass in einem und demselben Lande die verschiedenen Religionsgenossenschaften, wovon die eine den tradierten Glauben der anderen sogar bestreitet, Lügen straft und für nichts erklärt, durch das vereinigende Band der Vernunftreligion sich zu einem Staatskörper verschmelzen können.“ (Lutz-Bachmann / Fidora, 2004, 14)
Dass die rationale Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht auf Vernunft basiert, war eine feste Brücke zwischen Mu‛taziliten und Philosophen wie Abraham bin Daud. Dass auch damals die Meinung vorhanden war, dass die Religionen Gemeinsamkeiten haben, die durch Vernunft zu begründen sind, wird an diesem Beispiel deutlich.
Solche zeitlich, örtlich und personell begrenzten Lernprozesse haben nicht durchgehend ein friedliches Zusammenleben und einen beständigen Frieden bewirken können. Politische Macht hat sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart oft zur Benachteiligung von Minderheiten geführt. So waren und sind auch heute in einigen muslimisch geprägten Ländern Christen und Anhänger anderer Religionen benachteiligt und gelten nicht als gleichberechtigte Bürger. Es ist von großer Bedeutung, die theologisch und religiös begründete Anerkennung und Wertschätzung hervorzuheben und die Ursachen von Konflikten zu entschärfen. Der Dialog bedarf stets neuer Impulse, die bedauerlicherweise auch eine Folge von Konflikten sein können.
Der Brief der 138 muslimischen Gelehrten an die christlichen Würdenträger – ein aktuelles Dialogmodell
Als im Jahr 2006 Papst Benedikt XVI. in seiner Vorlesung an der Universität Regensburg ein Zitat eines mittelalterlichen Kaisers wiedergab, in dem gesagt wurde, dass Muhammad nichts Neues gebracht habe, außer Schlechtes und Inhumanes, wurde dies in einigen muslimischen Ländern als Provokation und Abwertung des Islam wahrgenommen. Die Äußerungen des Papstes über Glauben und Vernunft erweckten den Eindruck, dass er dem Islam vorwerfe, eine unvernünftige, gewalttätige Religion zu sein. Die Aussagen des Papstes und die Reaktionen seitens der Muslime veranlassten 38 muslimische Gelehrte aus aller Welt, sich 2006 in einem gemeinsamen Offenen Brief– mit Bezug auf den Koran und islamische Quellen sowie auf die Bibel – zu Wort zu melden. (▸ Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus katholischer Perspektive)
Ein weiterer Brief aus dem Jahr 2007 von 138 muslimischen Gelehrten an die christlichen Würdenträger, der inzwischen über 400 Unterschriften trägt, benennt die Grundprinzipien beider Religionen und gemeinsamer ethischer Werte. Dem Brief mit dem Titel A Common Word (▸ Muslimische Akteure) ist zu entnehmen, dass auch in der Vielfalt das Verbindende erschlossen werden kann, ohne eine Einförmigkeit zur Folge zu haben.
Der Brief beginnt mit der Feststellung, dass „Muslime und Christen miteinander weit über die Hälfte der Weltbevölkerung bilden. Ohne Frieden und ohne Gerechtigkeit zwischen diesen beiden Religionen kann es keinen wahren Frieden geben.“ (Royal Aal al-Bayt Institute, 2007, 9)
Um einen Frieden zu erzielen, so betonen die Verfasser des Briefes, kann der Glauben an einen Gott und die Liebe zu ihm Christen und Muslime verbinden. Ferner ist die Nächstenliebe ein solides Fundament des Zusammenlebens. Die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe sind daher unentbehrliche Fundamente des Friedens, die in beiden Religionen im Mittelpunkt des Glaubens stehen. Die Nächstenliebe umfasst in beiden Religionen nicht nur ihre eigenen Glaubensgeschwister, sondern die gesamte Menschheit. Die Solidarität, die Sorge um und Fürsorge gegenüber anderen Menschen sind höchster ethischer Anspruch der Handlungsweise im Christentum und Islam.
Aus dem Brief wird ersichtlich, dass die Suche nach Einigendem nicht die Unterschiede und Differenzen verwischen sollte. Christen und Muslime können sich in vielen Glaubensfragen annähern und Übereinstimmung bei ethischen Werten erzielen, um der Verantwortung für die Welt gerecht zu werden. Für das friedliche Zusammenleben ist der Dialog auf unterschiedlichen Ebenen notwendig, vor allem gemeinsames Handeln in der Gestaltung der Gesellschaft. Für das Zusammenleben der Religionen ist es unentbehrlich, die theologische Eigenart der jeweiligen Religion anzuerkennen und, wo möglich, auch auszuhalten. Die theologischen Ansprüche, vor allem der alleinige Wahrheitsanspruch, dürfen den Frieden und das gemeinsame Handeln des Menschen als verantwortungsbewusstes Geschöpf nicht gefährden. Die ausdrückliche Absage an jegliche Form von Missbrauch des Glaubens für Konflikte und Zerstörung ist zwingend erforderlich und muss stets angesprochen werden: „Denjenigen, die sich dennoch aus eigennützigen Motiven an Konflikten und Zerstörung ergötzen oder letztendlich von diesen zu profitieren glauben, sagen wir, dass unsere unsterblichen Seelen selbst auf dem Spiel stehen, wenn wir nicht aufrichtig alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, Frieden zu schließen und in Eintracht zusammen zu finden.“ (Royal Aal al-Bayt Institute, Ein Wort, 2007, 42)
Der Appell zur Überwindung der Konflikte und zur Aussöhnung am Ende des Briefes soll der erste Schritt für jede Begegnung und jeden Dialog sein:
„Darum lasst unsere Differenzen nicht zur Ursache von Hass und Streit zwischen uns werden. Lasst uns stattdessen wetteifern in Rechtschaffenheit und in guten Werken. Lasst uns einander respektieren, fair, gerecht und freundlich zueinander sein, und in aufrichtigem Frieden, Eintracht und gegenseitigem Wohlwollen miteinander leben.“ (Royal Aal al-Bayt Institute, 2007, 42)
Diesem Satz liegt sicherlich der koranische Vers 8 in Sure 5 zu Grunde, in dem die Gerechtigkeit als Maßstab dargelegt wird: „Feindschaft eines Volkes soll euch nicht reizen, anders als gerecht zu handeln. Seid gerecht, das ist der Gewissenhaftigkeit näher, und lebt verantwortlich in Gottes Gegenwart. Gott nimmt sehr wohl wahr, was ihr tut.“
Ausblick
Die Sorge um den Frieden und die Notwendigkeit, sich gemeinsam für eine bessere Welt einzusetzen, sind ausreichende Motivation dafür, aufeinander zuzugehen, Diskrepanzen, Ignoranz, Ablehnung und Kriege hinter sich zu lassen und durch gemeinsame Aktivitäten die Welt zu gestalten. Die lobenswerten Initiativen, von denen auch in diesem Handbuch berichtet wird, verdienen Anerkennung und erwecken die Hoffnung auf eine Zukunft, für die der Dialog zwischen Religionen und Kulturen in allen Bereichen des Lebens selbstverständlich ist, während die Unterschiede als Chance und Bereicherung wertschätzend betrachtet werden.
Wir haben noch einen langen Weg vor uns, um unser Bemühen zu konkretisieren, über schwierige Themen offen zu sprechen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Allein die Frage, wie weit der Glaube das tägliche Leben mit Ritualen prägen kann und wie weit er im öffentlichen Leben sichtbar werden darf, führt zu unterschiedlichen Konzepten, die sich im Zusammenleben, insbesondere in Konfliktsituationen, bemerkbar machen.
Das gemeinsame Wort, das nach koranischer Auffassung Christen und Muslime verbindet, ist der Glauben an und die Liebe zu einem einzigen Gott, an den Christen wie Muslime glauben. Es besteht kein Zweifel, dass in beiden Religionen Gott als Schöpfer und Erhalter der Schöpfung im Zentrum des Glaubens steht. Die Muslime sind überzeugt, dass der eine Gott von Beginn der Schöpfung an seine Botschaft den Menschen durch seine Gesandten im Kern unverändert vermittelt hat. Für sie sind das Gottesbild im Christentum und die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes unverständlich, und es ist ein Gottesbild, das sie nicht mittragen können. Das trinitarische Gottesbild erweckt bei manchen Muslimen den Eindruck, dass die Christen nicht als Monotheisten bezeichnet werden können.
Die Christen haben über Jahrhunderte den Islam zum „Irrglauben“ erklärt: Der Gott im Islam sei weit entfernt von seinen Geschöpfen; er verlange absoluten und bedingungslosen Gehorsam und sei ein strafender Gott und strenger Richter, der die Vergehen der Menschen gnadenlos vergilt (▸ Ursprung und Ziel: Gott als Schöpfer und Richter).
Im Dialog gilt es, stets herauszufinden,
- wie man zu „einem gemeinsamen Wort“ kommen kann, wenn immer noch Missverständnisse und Missdeutungen vorhanden sind,
- wie diese überwunden werden können, damit eine solide Basis für ein Leben in Würde, Freiheit und Frieden für alle Menschen erlangt werden kann und
- wie die Gemeinsamkeiten als Basis der Handlungsweise dienen und die Unterschiede respektvoll bestehen bleiben können.
Zitierte Literatur
Brentjes, Burchard, Die Mauren. Der Islam in Nordafrika und Spanien (642-1800), Leipzig 1989
Lings, Martin, Muhammad – Sein Leben nach den früheren Quellen, Kandern im Schwarzwald 2013
Lutz-Bachmann, Matthias / Fidora, Alexander (Hg.), Juden, Christen und Muslime – Religionsdialog im Mittelalter, Darmstadt 2004
Rasul, Mahallati / Hashim, Seyyed, Tarīḫe Islam – az šoru‘ ta pāyāne Kilāfate Othman (Geschichte des Islam – Vom Anfang bis zum Ende des Kalifats von Othman), Teheran 1996
Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist. Ein offener Brief und Aufruf von Religiösen Führern der Muslime an die Religiösen Führer des Christentums. Übersetzt von Abd al-Hafidh Wentzel, 2007, www.acommonword.com
Serauky, Eberhard, Im Glanze Allahs. Die Wirkung der arabischen Kulturwelt auf Europa, Berlin 2004
Tamcke, Martin, Christen in der islamischen Welt. Von Muhammad bis zur Gegenwart, München 2008
Zum Weiterlesen
Bsteh, Andreas / Mirdamadi, Seyed (Hg.), Dialog – Werte – Rechte – Pflichten. Grundfragen einer gerechteren Ordnung des Zusammenlebens in christlicher und islamischer Sicht, Wien 2001
Kästle, Daniela / Kraml, Martina / Mohagheghi, Hamideh (Hg.), Heilig – Tabu. Christen und Muslime wagen Begegnungen, Ostfildern 2009
Kateregga, Badru D. / Shenk, David W., Woran ich glaube – Ein Muslim und ein Christ im Gespräch, Schwarzenfeld 2005
Kuschel, Karl-Josef, „Jud, Christ und Muselmann vereinigt?“ – Lessings „Nathan der Weise“, Düsseldorf 2004
Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt von Seiner Heiligkeit Papst Franziskus und Großimam von Al-Ahzar Ahmed Al-Tayyeb, Abu Dhabi, 04. Februar 2019 (Download)