Alevitisch-theologische Hintergründe für einen interreligiösen Dialog
In der alevitischen Lehre steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht seine Ethnie, Sprache oder Religion. Jeder Mensch ist für sein Tun verantwortlich, d. h., der Mensch kann selbstständig ein Urteil fällen, danach handeln und auch die möglichen Konsequenzen tragen. Zum Bekenntnis der Alevit:innen gehört der Glaube an Gott, der sich in seinem vollkommensten Geschöpf, dem Menschen, manifestiert. Aus diesem Grund gebührt dem Mitmenschen Respekt und Achtung. Der Mensch ist nicht Sklave Gottes, sondern sein selbstverantwortliches Geschöpf. Daraus ergeben sich Werte wie Akzeptanz, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und selbständiges Denken. Die religiös ethische Leitlinie orientiert sich daran, den inneren Frieden der Gemeinschaft zu wahren und sie nach außen zu sichern. Hand, Zunge und Lende sind zu beherrschen. Somit hat die Liebe gegenüber dem Schöpfer und gegenüber seinem Geschöpf einen besonderen Wert.
Nach alevitischem Verständnis hat Gott die Menschen als Mann und Frau, als gleichwertige Wesen geschaffen. Gott hat verkündet: „Und zu Seinen Zeichen gehört, dass er euch Partnerwesen aus euch selber schuf, damit ihr bei ihnen Ruhe findet. Und Er stiftet unter euch Liebe und Barmherzigkeit.“ (Sure 30,21).
Im alevitischen Gebetbuch „Buyruk – das Gebot“ wird mehrfach und mit Betonung formuliert: “Betrachte 72 Volksgruppen bzw. Religionsgemeinschaften als gleichwertig.“ (72 millete bir nazarla bak.). Die Zahl 72 steht hier als Synonym für „alle“ und hat mit den „72 Sekten im Islam“ nichts zu tun. Der aus dem Arabischen ins Türkische aufgenommene Begriff „millet“ bedeutet sowohl die Ethnie als auch die Religionsgemeinschaft.
In dieser Formulierung erkennen Alevit:innen die gleichberechtigte Koexistenz der Völker bzw. Religionsgemeinschaften an.
Diese Leitlinie hat einen gewichtigen Platz im alevitischen Wertesystem gefunden. Das alevitische Wertesystem „4 Tore mit 40 Stufen“ macht zur Toleranz folgende Aussage: Das 4. Tor (hakikat), 1. Stufe besagt: bescheiden sein, alle Menschen achten und ehren, 72 Glaubensgemeinschaften als gleichwertig anerkennen. Unabhängig von Religion, Sprache, Herkunft und Geschlecht werden alle Menschen als gleich angesehen. Das ist vergleichbar mit dem Konzept der versöhnten Verschiedenheit im Christentum, die im Rahmen der ökumenischen Begegnung angesprochen wird.
Der alevitische Gelehrte (pir) erteilt dem Schüler (talip) während der Aufnahme in den mystischen Weg u.a. den folgenden Ratschlag (nasihat): „Füge keinem Geschöpf Schaden zu. Beleidige keinen Menschen. Betrachte alle Menschen als gute Wesen, denke nicht hinterhältig.“
Der türkisch-alevitische Dichter und Mystiker Yunus Emre formulierte im 13. Jh. die tolerante Haltung gegenüber den Menschen wie folgt:
„Sie nennen uns Ergebende
Wir haben nur einen Feind, den Hass
Wir hassen niemanden,
alle sehen wir gleich und eins.“ (Basgöz, Yunus Emre, 1990, 117)
Das Einvernehmen
Die Endstufe der toleranten Haltung ist das Einvernehmen, das auf beidseitiger Akzeptanz beruht. Toleranz, Akzeptanz und Einvernehmen sind keine Eigenschaften, die angeboren sind, sondern sie müssen ständig gepflegt und gefördert werden; in der Familie sagt man zum Beispiel „unseres” statt „meins“; in den Gemeinden „Nächstenliebe“ und nicht zuletzt in der Politik „Schutz von Minderheiten“.
Die religiös-ethische Leitlinie orientiert sich daran, den inneren Frieden der Gemeinschaft zu wahren und ihn nach außen zu sichern. – „Sei bescheiden, achte und ehre alle Menschen!“ – „Akzeptiere alle Geschöpfe des Schöpfers wegen!“ – „Auch wenn du verletzt wirst, verletze niemals!“ – „Füge keinem Geschöpf Schaden zu! Beleidige keinen Menschen! Betrachte alle Menschen als gute Wesen, denke nicht hinterhältig!“ (Kaplan, Alevitentum, 2004, 85)
Interreligiöser Dialog auf Augenhöhe
Ein interreligiöser Dialog kann ein echter Dialog werden, wenn sich die Personen mit ihrer jeweiligen Überzeugung gegenseitig anerkennen und akzeptieren, d.h. eine Augenhöhe herstellen. Die Beteiligten des interreligiösen Dialogs sollten offen für Pluralismus sein und kooperativ miteinander arbeiten. Die islamischen Religionsgemeinschaften sollten sich auch gegenseitig akzeptieren, anerkennen und der jeweiligen Richtung ihre Eigenständigkeit zugestehen.
Es gibt im Alltag mehrere Felder, in denen sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften interreligiös begegnen und betätigen: interreligiöse Bestattung, Konversion, religionsverschiedene Ehe, interreligiöses Gebet, religiöser Konflikt, Seelsorge, Terroranschlag u.a.
Je nach Anlass können die Vertreterinnen und Vertreter der betroffenen Religionsgemeinschaften die Angelegenheit gemeinsam erörtern, sich austauschen und mit den betroffenen Personen gemeinsam ein Verfahren festlegen, um deren Erwartungen zu erfüllen und sie mit gutem Gewissen zu betreuen.
Alevitische Gemeinden haben mittlerweile viel Erfahrung mit interreligiösen Situationen gesammelt und sind in der Lage, mit anderen Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten. Unabhängig davon, ob ein Alevit religiös oder nicht religiös ist, so ist er doch immer zu interreligiösen Begegnungen aufgerufen.
Dialogebenen
Dialog im Alltag
Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und religiöser Bindung leben Tür an Tür. Dies löst einerseits Ängste und Unsicherheiten aus, stellt aber andererseits eine große Bereicherung dar. Begegnung, Gespräche und der Dialog mit Menschen anderer Kulturen und Religionen können helfen, sich gegenseitig kennen und respektieren zu lernen. Dort, wo Menschen zusammenleben, gibt es auch Konflikte. Besonders in Krisensituationen verschärfen sich Konflikte, es werden Schuldige und Sündenböcke gesucht und es wird polarisiert. Es findet dann kein Gespräch miteinander, sondern nur noch ein Schimpfen übereinander statt. Es wird bei diesem Fall nebeneinander monologisiert, wo der Dialog Konflikte entschärfen könnte. Eine der Folgen von fehlender Toleranz und Akzeptanz, insbesondere bei den Jugendlichen, ist heute die Fremdenfeindlichkeit, die alle Menschen durch die Förderung der Toleranz gemeinsam und langfristig bekämpfen müssen. Eine andere Folge der intoleranten Haltung ist der Stress, der nicht nur für egoistische Menschen selbst schädlich ist, sondern auch für ihre Umgebung.
Das Gegenteil erlebt man im Dialog, in dem Menschen in einer offenen und nachbarschaftlichen Atmosphäre zusammenleben wollen, und ihre Freude und ihr Leid, Probleme und Beschwernisse miteinander teilen. Menschen haben auch ein Bedürfnis, die eigene religiöse Erfahrung und Tradition und die Suche nach Gott und dem Absoluten mit anderen zu teilen. Auch Alevit:innen sollten gute Beziehungen zu ihren Nachbarn pflegen. Zum Beispiel sollte man sich bei einem Todesfall in der Nachbarschaft in die Lage der Hinterbliebenen versetzen und sich dementsprechend verhalten. Eine kleine Geste der Anteilnahme und Beileidswünsche für die Hinterbliebenen würden sicherlich das Leid der Betroffenen mildern. Viele Menschen erleben die Nachbarschaft von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit als eine kulturelle Bereicherung.
Dialog auf der Ebene der Theologie
Geistliche und Würdenträger:innen können sich in den interreligiösen Begegnungen über die eigene Glaubenslehre austauschen. Dabei können verschiedene theologische Fragen gegenseitig gestellt und aus eigenen Perspektiven beantwortet werden. Religionswissenschaftler:innen und Theologen:innen aus den christlichen, islamischen, alevitischen, buddhistischen und jüdischen Religionen sollten aktuelle gesellschaftliche Fragen aus eigener Sicht beantworten und untereinander austauschen. Dabei sollten Theolog:innen ihre Standpunkte sowie abweichende Positionen ohne Vorbehalte gegenseitig anerkennen und akzeptieren. Der interreligiöse Dialog erfordert, auf der gleichen Augenhöhe zu stehen.
Auf der Ebene der Gemeinde
Religionsgemeinschaften sollten sich auch zu den gesellschaftlichen Fragen austauschen und kooperieren: Friedensfrage, Umweltverschmutzung, Terroranschläge, Ausländerfeindlichkeit, Armut, Neid und Eifersucht sind einige Themen für derartige Kooperationen. Alevitische Ortsgemeinden ergreifen selbst die Initiative und gehen auf die christlichen Gemeinden zu, wenn sie personell dazu in der Lage sind. In den letzten Jahren zeigen auch die alevitischen Heranwachsenden ein Interesse daran, am interreligiösen Dialog aktiv teilzunehmen.
Nicht nur interreligiöser Dialog, sondern auch intrareligiöser Dialog ist wichtig und nötig. Anhand der Informationen, die in dem interreligiösen Dialog gewonnen werden, können die verantwortlichen Personen aus den Religionsgemeinschaften gezielte Aufklärungsarbeit in ihre eigenen Gemeinden übertragen und ihren Beitrag zur friedlichen Koexistenz in einer multireligiösen Gesellschaft leisten. Wichtig ist, die Ergebnisse des interreligiösen Austausches unter den Geistlichen den eigenen Gemeindemitgliedern zu vermitteln.
Ein wichtiges Anliegen in den Gemeinden ist die Betreuung der Konvertiten:innen, die unter Umständen den interreligiösen Dialog erleichtern können, weil sie gründliche Informationen in zwei Religionen bzw. Konfessionen haben.
Interreligiöser Dialog auf der Schulebene: Religionsunterricht
Der Religionsunterricht vermittelt den Schüler:innen Kenntnisse und Informationen über ihre eigene Religion und verstärkt damit ihre Selbstsicherheit. Ohne diese Selbstsicherheit in eigener Religion wären die Schüler:innen nicht in der Lage, auf interreligiösen Dialog einzugehen und sich dort am Austausch im Schulalltag aktiv zu beteiligen. Für alevitische Schüler:innen wurde die Möglichkeit erst durch die Einführung des alevitischen Religionsunterrichts in mehreren Bundesländern geschaffen. Die Unterschiede in der Tradition und Interpretation zum Glauben und zum Gebet von Alevit:innen und Sunnit:innen sind doch so gewaltig, dass ohne theologische Auseinandersetzung und gegenseitige Anerkennung ein gemeinsamer Religionsunterricht für die alevitischen und sunnitischen Kinder nicht möglich ist.
In Hamburg findet der „Religionsunterricht für alle“ statt, der von alevitischen Gemeinden in Hamburg unterstützt wird. Im Unterschied zu den anderen Bundesländern besuchen in Hamburg alle Schüler:innen einer Klasse den Religionsunterricht gemeinsam. Dieser Unterricht unterstützt den interreligiösen Dialog auf allen Ebenen. Der Bildungsplan, die Schülerschaft, die Lehrerschaft sowie die Unterrichtsmaterialien sind interreligiös und der Unterricht basiert auf Dialog.
Dialog auf der Ebene der Seelsorge in Krankenhäusern und in Haftanstalten
Religiöse Dienste sollten in der Tradition der Betroffenen geleistet werden. Ein Patient alevitischer Herkunft sollte eine Seelsorge nach seinem Glauben erhalten. Durch einen engen Dialog der Religionsgemeinschaften kann auch eine konfessionsübergreifende Seelsorge entwickelt und praktiziert werden. Dies kann gegen die vorhandene Fremdenfeindlichkeit unter den Gefangenen unterschiedlicher Herkunft wirken.
Bemerkungen zu den interreligiösen Festen
Es gibt religiöse Feste, die in mehreren Religionen zu finden sind. Diese Gemeinsamkeiten sollten ausgearbeitet werden. Die Nikolaus-Feier und die alevitische Hidirellez-Feier haben bestimmte gemeinsame Züge, obwohl sie an verschiedenen Tagen gefeiert werden.
Die Religionsgemeinschaften können im Rahmen des interreligiösen Dialogs Informationen zu diesen Festen zusammenstellen und gegebenenfalls gemeinsam feiern.
In Deutschland sollten die Kinder in der Schule über die Feste ihrer Schulfreunde informiert werden und sich, soweit es geht, an den Festlichkeiten beteiligen. Dies würde zum interkulturellen und interreligiösen Austausch beitragen – auch für die Familien dieser Kinder.
Glaubensaspekte zum Eintritt in das Alevitentum
Die Alevit:innen akzeptieren, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit durch ihren jeweiligen Weg Gott erkennen. Aus diesem Verständnis heraus ist es dem Menschen zugesichert, sich bezüglich seines Religionsbekenntnisses frei zu entscheiden. Der Spruch „Betrachte 72 Volksgruppen bzw. Religionsgemeinschaften als gleichberechtigt“ (Bozkurt, Buyruk, 2004, 169) empfiehlt den Alevit:innen, nicht zu missionieren oder andere von ihrem Glauben abzuwerben.
Einen Menschen zum Alevitentum zu zwingen, würde somit den alevitischen Grundwerten widersprechen. Eine derartige Missionierungsabsicht zur Vergrößerung ihrer Glaubensgemeinschaft existiert bei den Alevit:innen nicht. Nach diesem Grundsatz wäre es auch eine Diskriminierung, die Anwärter aufgrund ihrer bisherigen Religion, ihrer Herkunft oder einer anderen Eigenschaft zu benachteiligen oder zu bevorzugen.
Jeder Mensch, der sich mit dem Alevitentum identifiziert oder sich stark angezogen fühlt, unabhängig davon, ob er aus einer alevitischen Familie stammt oder nicht, kann durch das Versprechen (ikrar) Zugang zur alevitischen Gemeinschaft finden bzw. in ihr aufgenommen werden.
Die nachträgliche Annahme des Alevitentums war früher im dörflich geprägten Alevitentum, z.B. bei den Kızılbaş-Alevit:innen, nicht möglich. Denn hier galt der Schutz der Gemeinschaft als das höchste Maß, das man durch Abschottung erreicht hatte. Bis ins letzte Jahrhundert hinein galt bei den Kızılbaş-Alevit:innen die Regel, dass man der alevitischen Gemeinde nur durch die Geburt angehören konnte. Diese Schutzmaßnahme wurde im 15. Jh. aufgrund jener Repressalien eingeführt, denen die Gemeinschaft unter den Osmanen ausgesetzt war.
Anders ist die Praxis unter den Bektaşi-Alevit:innen. Hier wird eine Person, die älter als 18 Jahre ist, seit dem 16. Jh. auf Wunsch auch ohne alevitische Eltern oder Elternteil durch einen Cem-Gottesdienst (ikrar cemi) in die Gemeinschaft aufgenommen.
Die Konvertierten können unter Umständen die Personen sein, die den interreligiösen Dialog verstehen und bei anderen verständlich machen.
Fazit
Interreligiöser Dialog ist aus der Sicht der alevitischen Glaubenslehre ein Gebot und in unserer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft eine Notwendigkeit, um ein friedliches Zusammenleben für uns und unsere Kinder zu schaffen. Unabhängig davon, ob jemand religiös oder nicht religiös ist, ist jeder Mensch dazu berufen.
Zitierte Literatur
Basgöz, Ilhan, Yunus Emre, Istanbul 1990
Bozkurt, Mehmet Fuat, Buyruk, Istanbul 2004
Bozkurt, Mehme Fuat, Das Gebot – Mystischer Weg mit einem Freund, Hamburg 1988
Kaplan, Ismail, Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004
Zum Weiterlesen
Bozkurt, Mehmet Fuat, Das Gebot – Mystischer Weg mit einem Freund, Hamburg 1988
Eißler, Friedmann (Hg.), Aleviten in Deutschland – Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven (EZW-Texte 211), Berlin 2010
Güzelmansur, Timo, Gott und Mensch in der Lehre der anatolischen Aleviten, Regensburg 2012
Kaplan, İsmail, Das Alevitentum – Lehre, Seele und Gemeinschaft, Hamburg 2022
Multireligiöse Studiengruppe MUREST (Hg.), Handbuch interreligiöser Dialog – aus katholischer, evangelischer, sunnitischer und alevitischer Perspektive, Köln 2006