Von Religionsgrenzen und deren Überwindung
Das individuelle und das gemeinschaftliche Gebet ist der innerste und tiefste Ausdruck des Glaubens an Gott oder eine transzendente Macht. „Ich glaube, weil ich bete“, hat der katholische Theologe Karl Rahner einmal gesagt. Das Gebet stellt Beziehung zu Gott her, schafft Gemeinschaft und religiöse Identität. Das Gebet kann so auch zur Abgrenzung von Andersgläubigen führen: Nicht mehr miteinander beten zu wollen oder zu können war und ist Ausdruck und zugleich Folge der Spaltung von Judentum und Christentum wie auch von innerchristlichen Spaltungen. Erst im Zuge der ökumenischen Bewegung wurde die innerchristliche Gebetsgemeinschaft wieder möglich, stößt aber gerade bei der Sakramentengemeinschaft auch an unterschiedlich eng gesetzte Grenzen.
Eine Gebetsgemeinschaft über die Religionsgrenzen galt lange Zeit für alle Religionen als undenkbar. Aber auch hier hat der interreligiöse Dialog im 20. Jahrhundert Grenzen geöffnet und überwunden. So haben bereits in den 1940er Jahren katholische Christen und sunnitische Muslime in Kairo ihre regelmäßigen Begegnungen mit einem gemeinsamen Gebet beschlossen. Der spirituelle Dialog gilt seit den 1980er Jahren als eine der Formen des interreligiösen Dialogs neben dem Dialog des Alltags, der theologischen Reflexion und der praktischen Zusammenarbeit (vgl. Päpstliches Sekretariat für die Nichtchristen, 1984, Nr. 30-35).
Ein Durchbruch in dieser Hinsicht war das Friedenstreffen der Religionen in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. 1986 erstmals eingeladen hat: Vertreter:innen verschiedenster Religionen machten sich gemeinsam fastend und pilgernd auf den Weg von Rom in die Stadt des Heiligen Franziskus, wo sie schließlich auf dem Platz vor der Basilika zusammenkamen, um jeweils in ihrer Tradition vor den anderen zu beten und so gemeinsam und doch auf ihre je eigene Weise ein Zeichen und Zeugnis vom wechselseitigen Respekt und Friedenswillen vor der Welt zu geben. Es war ein bis dahin in der Religionsgeschichte ungekanntes Ereignis, das den Startpunkt setzte für zahlreiche Formen und Anlässe des spirituellen interreligiösen Dialogs. In der Botschaft zum Weltfriedenstag 1991 sagte Papst Johannes Paul II.: „Gebet ist das Band, das uns am wirksamsten vereint. Durch das Gebet begegnen die Gläubigen auf einer Ebene, wo Verschiedenheiten, Missverständnisse, Verbitterung und Feindschaft überwunden sind, nämlich vor Gott, dem Herrn und Vater von uns allen. Als der authentische Ausdruck einer richtigen Beziehung mit Gott und mit anderen ist das Gebet ein positiver Beitrag zum Frieden“ (Gioia, 1997, 470).
Unterscheidungen und Formen
Das Friedenstreffen von Assisi hat Diskussionen und Kritik ausgelöst und bis heute wird die Frage, ob und wie man miteinander über die Religionsgrenzen hinweg beten kann, kontrovers zwischen und noch mehr innerhalb der Religionsgemeinschaften diskutiert. Setzt ein gemeinsames Gebet den Glauben an denselben Gott voraus? Verwischt ein gemeinsames Gebet nicht die unüberwindbaren Grenzen und das Spezifikum des eigenen religiösen Bekenntnisses? Kommt es durch das gemeinsame Gebet zu einer Reduktion der Glaubensweisen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner (vgl. auch ▸ Gemeinsam vor Gott: Gebet und Spiritualität)?
Schon Papst Johannes Paul II. reagierte auf die damals einsetzende Kritik mit der Unterscheidung, man könne zwar nicht gemeinsam beten, aber man könne zusammensein, um zu beten. Für diese Form des Nebeneinander- oder Nacheinanderbetens (nach dem Vorbild Assisi) hat sich die Bezeichnung „multireligiöses Beten“ weitgehend durchgesetzt. Das Spezifische des jeweiligen Glaubens, im Falle des Christentums das Bekenntnis zu Jesus Christus und zum dreifaltigen Gott, muss und darf bei dieser Form nicht ausgeblendet, sondern darf und soll zur Sprache kommen. Das multireligiöse Gebet lässt die theologisch umstrittene Frage offen, ob alle Beteiligten sich an denselben Gebetsadressaten wenden (zum Gottesbild im Christentum und im Islam vgl. ▸ Ursprung und Ziel: Gott als Schöpfer und Richter). Diese Form des spirituellen Dialogs ist heute die meist praktizierte und zugleich die angemessenste Form in Schulen und bei öffentlichen Anlässen, weil sie die jeweils eigene religiöse Identität wahrt und kein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten über die Gottesvorstellungen der Religionen voraussetzt. Das multireligiöse Gebet kann beim einzelnen Teilnehmer/der einzelnen Teilnehmerin aber auch zu einem „interreligiösen Gebet“ werden, wenn er oder sie die Gebetstexte der anderen mitspricht oder mit einem Amen bekräftigt. Nicht selten kommt es am Ende multireligiöser Gebete auch zu einer expliziten Einladung, noch ein gemeinsames Gebet zu sprechen.
Das „interreligiöse Gebet“ unterscheidet sich vom multireligiösen also dadurch, dass gemeinsame Gebetstexte gesprochen werden. Diese können aus einer bestimmten religiösen Tradition stammen (z.B. aus dem Psalter) oder auch speziell für solche Anlässe formuliert worden sein. Das interreligiöse Beten setzt allerdings ein hohes Maß an theologischer Reflexion, Kenntnis übereinander, Vertrauen und Sensibilität voraus. Es wird vor allem in Kontexten praktiziert, in denen Menschen verschiedenen Glaubens sich bereits gut kennen. Papst Franziskus hat in den letzten Jahren wiederholt Gebete für das interreligiöse Gebet im Kontext der abrahamischen Religionen vorgeschlagen, so 2015 in seiner Enzyklika Laudato si (Nr. 246) und 2021 bei seinem Besuch im Irak mit dem Gebet der Kinder Abrahams.
Niederschwelliger als multi- und interreligiöses Gebet ist die „liturgische Gastfreundschaft“, bei der Angehörige anderer Religionen eingeladen werden, dem eigenen Gebet oder Gottesdienst beizuwohnen. Dem anderen wird so ein authentischer Zugang zur eigenen Gebets- und Feiertradition gewährt. Auch durch diese Form des Zuhörens, des Zuschauens, des Miterlebens können interreligiöse Lernprozesse und spirituelle Erfahrungen eröffnet werden. „Am Beten der anderen Anteil zu nehmen heißt nicht: fremde Götter anzurufen. … Niemand muss sich überfordert fühlen, wenn er mitfeiert, ohne den Glauben zu teilen. Auch wird man dem eigenen Glauben nicht dadurch untreu, dass man Anteil nimmt, wenn andere Menschen ihre eigene Glaubensüberzeugung zum Ausdruck bringen“ (Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2015, 52). Viele würden es als Grenzüberschreitung betrachten, aktiv an den Riten der anderen teilzunehmen, etwa wenn Muslim:innen an der katholischen Eucharistie teilnehmen oder Christ:innen das islamische Ritualgebet mitvollziehen. Die gastgebende Gemeinschaft definiert die Regeln, die zu beachten sind.
Anlässe
In Situationen von gemeinsamer Not und Trauer, nach Unglücken oder von Menschen verursachten Katastrophen und Kriegen, oder einfach weil die Begegnung von Menschen unterschiedlichen Glaubens sich bereits zur Freundschaft vertieft hat, verspüren viele das Bedürfnis, über die konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg sich gemeinsam zum Gebet zu versammeln, sei es um ein Zeichen der Solidarität und Gemeinschaft zu setzen, sei es um einander Trost und Mut zu spenden oder gemeinsam für den Frieden zu beten. Oft erwartet die Zivilgesellschaft oder Politik in Deutschland, dass die Religionen ein solches öffentliches Zeugnis der Gemeinschaft geben. „Anlassbezogene interreligiöse Manifestationen in der Öffentlichkeit, bei denen zivile Akteure die religiöse Relevanz des Zivilen und religiöse Akteure die zivile Relevanz des Religiösen markieren, haben dann immer auch den Charakter einer beidseitigen Selbstvergewisserung und gemeinsamen Positionierung“ (Gerth, 2016, 142f). An vielen Orten und zu verschiedenen Anlässen sind solche gemeinsamen Gebete der Religionen inzwischen bereits eingespielt und selbstverständlich geworden.
Praktische Hinweise zur Vorbereitung und Gestaltung
Grundsätzlich sollten alle Religionsgemeinschaften vor Ort, die zu einer Mitwirkung bereit sind, auch zur Mitwirkung eingeladen werden. Nicht immer aber gilt diese Regel: Wenn etwa ein städtisches Krematorium feierlich eingeweiht werden soll, ist die Einladung von Religionsgemeinschaften fehl am Platz, die die Verbrennung Verstorbener ablehnen (z.B. Judentum, Islam). Bei der zeitlichen Ansetzung von Planung und Durchführung ist auf religiöse Feiertage und Gebetszeiten aller beteiligten Gemeinschaften zu achten. Bei der Wahl des Ortes eines multi- oder interreligiösen Gebets empfiehlt sich in der Regel ein religiös neutraler Ort (z.B. Schulaula, Stadtplatz). Kirchen und andere Räume mit Bildern, Kreuzen usw. sind eher ungeeignet für diese Anlässe.
Der Ablauf multireligiöser Feiern kann nach einem „Blockmodell“ gestaltet sein (Nacheinander der religiösen Beiträge), die Beiträge können aber auch miteinander verwoben sein. Lesungen oder Rezitationen aus den heiligen Schriften und Gebete aus den liturgischen oder rituellen Traditionen sind meist fester Bestandteil. Dabei dürfen auch die Sakralsprachen verwendet werden, doch sollten fremdsprachige Texte zusätzlich mündlich oder in schriftlicher Form für alle übersetzt werden. Es ist wichtig, dass alle verstehen, was gebetet wird. Auch Fürbitten, vielleicht mit verteilten Sprecherrollen, sind denkbar. Symbolhandlungen wie das Entzünden von Kerzen oder das Verteilen von Friedensbändchen deuten das Gesprochene aus und verstärken das gemeinschaftliche Handeln. Instrumentalmusik zur Umrahmung und Begleitung trägt zur Feierlichkeit bei, ob Lieder gesungen werden sollen oder können, ist im Einzelfall zu entscheiden. Inzwischen gibt es auch interreligiöse Liederbücher, die religiöses Liedgut für das gemeinsame Singen aufbereitet haben (vgl. Strübel/Trimum, 2018). „Durch das gemeinsame Singen, das Aufeinander-Hören und das aufmerksame Zuhören kann der Reichtum der Religionen noch unmittelbarer erfahren und die spirituelle Erfahrung vertieft werden“ (Gemeinsam vor Gott, 2021, 12).
Zitierte Literatur
Gemeinsam vor Gott – Beten im multireligiösen Kontext. Eine Orientierungshilfe für die Bereiche Kita, Schulen und Gemeinden, erarbeitet im Auftrag der Diözesankommission für Ökumene im Erzbistum München und Freising, 2021
Gerth, André, Das Gebet in der interreligiösen Begegnung, in: Rötting, Martin / Sinn, Simone / Inan, Aykan (Hg.), Praxisbuch Interreligiöser Dialog. Begegnungen initiieren und begleiten, St. Ottilien 2016, 139-152
Gioia, Francesco (Ed.), Interreligious Dialogue. The Official Teaching of the Catholic Church (1963-1995), Boston 1997, 470, Nr. 732
Päpstliches Sekretariat für die Nichtchristen, Die Haltung der katholischen Kirche gegenüber den Anhängern anderer Religionen. Gedanken und Weisungen über Dialog und Mission, Rom 1984.
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext, Gütersloh/München 2015
Arbeitshilfen
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Trauerfeiern und Gottesdienste nach Katastrophen (Arbeitshilfen Nr. 317), Bonn 2020
Erzbistum Köln, Gemeinsam in Vielfalt – religiöse Feiern in heterogenen Kontexten. Handreichung zu Multireligiösen Feiern und liturgischer Gastfreundschaft in Schule und Gemeinde, Köln 2023
Erzbistum Paderborn, Gemeinsam feiern in weiterführenden Schulen und Gemeinden. Multireligiöse Gebetstreffen der Religionen gestalten, Paderborn 2019
Kirche im Bistum Aachen, Multireligiöse Schulfeiern. Eine Orientierungshilfe für katholische Religionslehrer/innen und Seelsorger/innen im Bistum Aachen. Für alle Schulformen der Sekundarstufen I und II, Aachen 2018
Bischöfliches Ordinariat Rottenburg u.a., Religiöse Feiern im multireligiösen Kontext. Eine Handreichung für die Fachkonferenzen Evangelische und Katholische Religionslehre und Schulleitungen aller Schularten, Tauberbischofsheim 2018, Reader
Binder, Christian u.a., Öffentliche Trauerfeiern für Menschen unterschiedlicher Religions-zugehörigkeit. Eine Handreichung des Zentrums für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst (EKD), Hildesheim 2016
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe (Arbeitshilfen Nr. 170), Bonn 2. Aufl. 2008
Zum Weiterlesen
Bauschke, Martin / Homolka, Walter / Müller, Rabeya (Hg.), Gemeinsam vor Gott. Gebete aus Judentum, Christentum und Islam, Gütersloh 2004
Bernhardt, Reinhold, Zur „Legitimität“ gemeinsamen Betens von Christen und Muslimen, in: Micksch, Jürgen (Hg.), Evangelisch aus fundamentalem Grund. Wie sich die EKD gegen den Islam profiliert, Frankfurt a.M. 2007, 186-206
Dam, Harmjan / Doǧruer, Selçuk / Faust-Kallenberg, Susanna (Hg.), Begegnung von Christen und Muslimen in der Schule: Eine Arbeitshilfe für gemeinsames Feiern, Göttingen 2016
Krochmalnik, Daniel / Boehme, Katja / Behr, Harry Harun / Schröder, Bernd (Hg.), Das Gebet im Religionsunterricht in interreligiöser Perspektive, Berlin 2014
Renz, Andreas, Beten wir alle zum gleichen Gott? Wie Juden, Christen und Muslime glauben, München 2011 (e-book)
Schmid Hansjörg / Renz, Andreas / Sperber, Jutta (Hg.), „Im Namen Gottes …“ Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam, Regensburg 2006
Strübel, Bettina / Trimum e.V. (Hg.), Trimum. Interreligiöses Liederbuch. Gemeinsam feiern und singen, Wiesbaden 2018