Religion und Kultur
Eine interreligiöse wie auch eine interkulturelle Kompetenz ist in einer weltanschaulich-religiösen und kulturell vielfältigen Gesellschaft erstrebenswert. Religiöse Überzeugungen prägen nach wie vor das Denken und Handeln von Menschen, auch wenn die Zahl kleiner wird. Religion und Kultur sind aufeinander bezogen und miteinander verwoben: Jede Religion erscheint in einem konkreten kulturellen Gewand und jede Kultur ist auch religiös geprägt. Interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen sind zu unterscheiden, auch wenn sie Überschneidungen aufweisen. In Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, in der Jugend- und Sozialarbeit, im Bereich von Bildung und Erziehung wie auch in Kirchen- und Moscheegemeinden sind daher nicht nur interkulturelle, sondern auch interreligiöse Kompetenzen gefragt.
Haltungs-, Wissens- und Handlungskompetenz
Das Wort „Kompetenz“ ist als Schlüsselbegriff in der Pädagogik und weiteren Bereichen etabliert. Dieter Gnahs definiert Kompetenz als „die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen in spezifischen Situationen. Kompetentes Handeln schließt den Einsatz von Wissen, von kognitiven und praktischen Fähigkeiten genauso ein wie soziale und Verhaltenskomponenten (Haltungen, Gefühle, Werte und Motivationen)“ (Gnahs, 2007, 21).
Die Vermittlung interreligiöser Kompetenz hat das Ziel, Menschen zu befähigen, in religiös heterogenen Gruppen verständig und wertschätzend miteinander umzugehen und gemeinsam Verantwortung zu tragen. Interreligiöse Kompetenz als Schlüsselkompetenz umfasst eine Haltungskompetenz, eine Wissenskompetenz und eine Handlungskompetenz. Diese drei Kompetenzen bilden die Grundlage einer dialogischen Kompetenz.
Die Haltungskompetenz ist geprägt von der inneren Einstellung zum anderen, die über Sichtweise und Umgang mit ihm entscheidet. „Haltung“ bezeichnet die innere Sicht eines Menschen auf die Welt und die anderen. Haltungen bilden sich auf Grund von Informationen, stärker jedoch durch eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen. Die Reflexion eigener Erfahrungen, eigener Werte, der eigenen Glaubensbasis und der eigenen Motivation ist ebenso unerlässlich zur Erlangung interreligiöser Kompetenz wie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild vom anderen, mit Vorurteilen und Ängsten, aber auch mit eigenen Idealen und Wünschen. Haltungen sind jedoch nicht starr und unveränderlich, neue Erfahrungen und Begegnungen können zu Änderungen von Haltungen beitragen. Die eigene Haltung entscheidet über die Einordnung, Gewichtung und Deutung von Fakten und Hintergrundwissen.
Der Gewinn eines Dialogs liegt nicht allein in der erlangten Kenntnis über den Glauben und die Glaubenspraxis des religiös Anderen, sondern auch in der Selbstvergewisserung des Eigenen im Angesicht des anderen. Eine wesentliche Haltung im Dialog ist das Interesse, das Wissen um die Verbundenheit und die Aufmerksamkeit für den anderen.
Zur Wissenskompetenz gehören Grundkenntnisse über Religionen, besonders über Judentum, Christentum und Islam, allerdings auch über östliche Religionen, die im Westen präsent sind, über die Heiligen Schriften, und Glaubensinhalte, über Feste und Riten sowie über die Glaubenspraxis, die auch den Alltag bestimmt. Auch zählt zum Verständnis von Religionen die Kenntnis über geschichtlich-kulturelle Wurzeln und Bezüge. Alle Religionsgemeinschaften sind selbst plural. Unterschiedliche Strömungen und Gemeinschaften haben sich in der Geschichte gebildet und zeigen sich in der Gegenwart.
Das theoretische Wissen über religiöse Inhalte allein reicht nicht aus, wichtig ist auch die Grundkenntnis über Pluralisierungen in den einzelnen Religionsgemeinschaften, ansonsten besteht die Gefahr von Pauschalurteilen über „den Islam“ oder „das Christentum“. Wissenskompetenz hilft zu differenzieren.
Zur Handlungskompetenz gehört die Fähigkeit, das Wissen in der Praxis, also auf konkrete Situationen und in konkreten Handlungsfeldern wie Kindertagesstätten, Schulen oder Krankenhäuser anzuwenden. Oft sind es Unverständnis und Konflikte, die im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Beheimatung ein adäquates Handeln erfordern. Allerdings ist Handlungskompetenz nicht nur in der Reaktion auf kritische Situationen gefragt, sondern erst recht in der proaktiven Gestaltung des Zusammenlebens, etwa im Ausschöpfen der religiösen Ressourcen für ein friedliches Miteinander. Eine Handlungskompetenz ermöglicht es, Begegnungsräume, in denen sich Menschen unterschiedlicher weltanschaulich-religiöser Verortung zusammenkommen, zu gestalten.
Religionen verfügen über ein Potential, das sie aus ihrem Selbstverständnis hinaus zum Wohl der Gesellschaft einbringen können. Im Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und in der Wahrnehmung der Schöpfungsverantwortung ist ein gemeinsames Handeln von Menschen unterschiedlicher religiöser Verortung möglich und notwendig. Eine Handlungskompetenz zielt auf ein gemeinsames Engagement, indem ethische Grundlagen der Religionen thematisiert und konkrete Schritte diskutiert und eingeschlagen werden. Der interreligiöse Dialog erschöpft sich nicht im theologischen Gespräch von Religionsexperten, sondern erweist sich wesentlich im „Dialog des Lebens“ und im „Dialog des Handelns“.
Eine Dialogkompetenz speist sich aus der Reflexion der eigenen Haltung, dem Wissen um (inter-)religiöse Zusammenhänge und der Fähigkeit, Begegnungen zu konzipieren und zu gestalten.Unter interreligiösem Dialog wird hier nicht nur das Gespräch über theologische Fragen verstanden, sondern auch der Austausch über das, was Menschen beschäftigt, was sie erfreut oder belastet, was sie ängstigt oder mit Hoffnung erfüllt (Dialog des Lebens). Der Dialog ist nicht der Ort des Dozierens, sondern des gemeinsamen Lernens.
Von der interreligiösen Begegnung zum interreligiösen Lernen
Interreligiöse Kompetenz kann ohne interreligiöse Begegnung nicht erworben werden. Der Erwerb dieser Kompetenz erfordert daher ein Lernen im interreligiösen Kontext. Um lediglich Wissen über andere Religionen und Kulturen zu erwerben und sich damit auseinanderzusetzen, muss der eigene Bereich nicht notwendigerweise verlassen werden. Um interreligiöse Kompetenz in den oben genannten Dimensionen zu erlangen, muss es jedoch zu einem Lernen in interreligiösen Kontexten kommen, in dem dann auch die eigenen Räume verlassen und die interreligiöse Begegnung und das Gespräch zu Orten des Lernens werden. Gespräche und Begegnungen in einer Synagoge und einer Moschee gehören ebenso zum interreligiösen Lernen wie das Einbeziehen Referentinnen und Referenten anderer Religionszugehörigkeit. Viele Einrichtungen wie z. B. Schulen und Kindertagesstätten sind bereits zu Stätten interreligiöser und interkultureller Begegnung geworden. Diese Orte können unter fachlicher Anleitung profiliert zu Lernorten interreligiösen und interkulturellen Zusammenlebens werden.
Sehr zu empfehlen ist ein dialogisches Lernen, bei dem sich Menschen aus Judentum, Christentum und Islam gemeinsam auf den Weg machen, Kompetenzen zu erwerben. Nicht nur die Fachreferentinnen und die Referenten sind in diesem Fall Vermittler interreligiöser Kompetenz, sondern ebenso die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Entwicklung und Durchführung von interreligiösen Dialogprojekten durch religiös gemischte Teams bietet eine ausgezeichnete Lernbasis.
Ein Praxisbeispiel
Im Folgenden wird ein Kursmodell „interreligiöse Kompetenz“ für Hauptamtliche im kirchlichen Dienst vorgestellt. Um den Zielen einer Vermittlung von Haltungs-, Wissens- und Handlungskompetenz gerecht zu werden, müssen diese miteinander verknüpft den Aufbau und die Durchführung des Kurses prägen. Dabei ist zu bedenken, dass die Grundhaltung eines Menschen in einer Fortbildung schwerlich zu verändern ist. Es melden sich – so die Erfahrung – in der Regel nur solche Personen zu einer Fortbildung „interreligiöse Kompetenz“ an, die den Dialog grundsätzlich bejahen. Im Kurs werden die eigenen Haltungen reflektiert und es wird bedacht, wie und wo sie sich bei jedem einzelnen entfaltet haben. Ebenso muss methodisches Handwerkszeug für die Organisation und Gestaltung von interreligiösen Begegnungen und Dialogen vermittelt werden.
Zielgruppe des im Folgenden vorgestellten Konzeptes sind hauptamtliche Mitarbeitende in Bildung, Seelsorge und Sozialer Arbeit. Die Gruppe wurde bewusst interdisziplinär zusammengesetzt, da Theologinnen und Theologen, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen oft bei ihrer Tätigkeit vor Ort, in einem Stadtviertel oder einer Einrichtung (z.B. Krankenhaus), vor der gleichen Situation stehen und sich im Wissen voneinander besser den Herausforderungen in ihrer je eigenen Professionalität stellen können. Ein Lernen miteinander und voneinander wird sich in der Praxis als hilfreich erweisen.
Die einzelnen Module können auch auf Fortbildungen für Ehrenamtliche übertragen und den Anforderungen in inhaltlicher Vermittlung und zeitlichem Rahmen angepasst werden. Für spezifische Zielgruppen wie Mitarbeitende in Kindertagesstätten oder in Krankenhäuser sollte ein eigenes Curriculum entwickelt werden, das die besonderen Voraussetzungen, Aufgaben und Fragestellungen in diesen Institutionen berücksichtigt.
Die Wissensvermittlung wird von Fachleuten übernommen, die Informationen über Islam und Judentum werden von den Angehörigen dieser Religionsgemeinschaften gegeben.
Ein Spezifikum des Kurses ist die Verknüpfung von Theorie und Praxis. Jeder Teilnehmende muss ein interreligiöses Projekt konzipieren, durchführen und reflektieren. Eine Kooperation von zwei oder drei Personen ist möglich. Es wird Wert daraufgelegt, dass die Planung und Durchführung tatsächlich interreligiös erfolgen. Diese Projekte können im Bildungsbereich, im sozialen oder pastoralen Kontext angesiedelt sein. Am Ende des Kurses werden die Projekte in der Kursgruppe präsentiert. Hierzu sind auch die Verantwortlichen und Leitungen der Institutionen eingeladen, die die Teilnehmenden entsandt haben.
Diese Projektarbeiten sind ein wichtiges Lernfeld für die einzelnen Teilnehmenden, aber auch für die gesamte Gruppe. Die Planung und Entwicklung des Projektes beginnen unmittelbar nach der ersten Einheit, die Erfahrungen werden in die laufende Fortbildung hineingenommen.
Die Fortbildung wechselt in ihrer Methodik: Vorträge, Übungen und Reflexion, Arbeit im Plenum und in Gruppen sind Bestandteile des methodischen Konzeptes. Ebenso gehört ein Lernortwechsel zum Konzept. Die Handlungskompetenz wird im Rahmen eines Projektes, das von den Teilnehmenden parallel zur Zeit der Fortbildung durchgeführt, besonders gefördert. Die Haltungskompetenz wird gestärkt durch fortwährenden Bezug zu eigenen Erfahrungen und Selbstreflexion.
Übungen werden besonders zur Sensibilisierung in der Begegnung mit dem Anderen und zur dialogisch-kommunikativen Kompetenz eingesetzt. Wesentliche Aussagen der katholischen Kirche zu den anderen Religionen und zum interreligiösen Dialog werden als Grundlage zur Begegnung und zum Dialog vermittelt.
Wichtige Bestandteile des Kurses sind neben den theoretischen Anteilen auch die praktischen Ansätze. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben und der eigenen religiösen Verortung gehören zum Kurs.
Entwurf eines Kurses interreligiöse Kompetenz
Die nachfolgenden Ausführungen sind als Anregung und Bausteine zur eigenen Planung zu verstehen.
Die multireligiöse Gesellschaft und ihre Herausforderung für die Kirche
- Religiöse Landschaft in Deutschland / in der Region
- Das Verstehen religiöser Phänomene in der Gegenwart
- Inhaltliches Grundwissen über andere Religionen: Judentum, Christentum und Islam
- Konkrete Ausprägungen: Judentum, Christentum und Islam in Deutschland
Haltungen in der Begegnung und im Dialog
- Was ist mein religiös-weltanschauliches Fundament? Was oder wer hat mich geprägt und prägt mich aktuell?
- Was stört mich an der Religion, in der ich aufgewachsen bin? Was verstört oder fasziniert mich an der Religion, der ich begegne?
- Mit welchen Fragen, Wünschen und Ängsten bin ich unterwegs?
- Mit welchen Erwartungen begegne ich persönlich und in meinem Arbeitsbereich Menschen anderer religiös-weltanschaulicher Verortung?
Begegnung von Christen, Juden und Muslimen
- Besuche und Gespräche in Kirche, Synagoge und einer Moschee: „Was uns heilig ist.“
- Eigene Spiritualität und Spiritualität in den Religionen
- Verbindendes und Trennendes zwischen den Religionen: Welche Werte einigen uns?
- Menschenrechte, Politik und Religion
- Wurzeln und Formen von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sowie Wege der Prävention
- Möglichkeiten einer gemeinsamen Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfung
Praktische Ansätze und Projekte im interreligiösen Bereich
- Eigene Kompetenz in der interreligiösen Arbeit
- Projektbeispiele aus der interreligiösen Bildungs- und Migrationsarbeit
- Methoden der Projektplanung und -durchführung
- Hilfen und Anregungen für Projekte im Arbeitsfeld
- Konkrete Projektplanung und offene Fragen
Zitierte Literatur
Gnahs, Dieter, Kompetenzen. Erwerb, Erfassung, Instrumente, Bielefeld 2007
Zum Weiterlesen
Leimgruber, Stephan, Interreligiöses Lernen, München 2007
Schambeck, Mirjam, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013