Menschliche Begegnungen abseits von theologischen Diskussionen
Es waren besonders die Anschläge des 11. September 2001 in New York und andere weltweite Ereignisse, die zu Beginn des neuen Jahrtausends zu einem größer werdenden Misstrauen gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Deutschland geführt haben. Auf verschiedenen Ebenen entstanden damals zahlreiche Aktivitäten, die Menschen zu Auseinandersetzung und gemeinsamer Aktivität anregen. Ein gegenseitiges persönliches Begegnen und Kennenlernen kann die empfundene Fremdheit des Anderen und die gegenseitigen Vorurteile vermindern und im besten Fall zu guter Nachbarschaft und Freundschaft beitragen. So laden Theaterstücke und Ausstellungen in hohem Maße zu einer Erweiterung des eigenen Wissenshorizonts und einer wertvollen Selbstreflexion der eigenen Überzeugungen ein. Ihnen gelingt es unter der alltäglichen Oberfläche nach Hintergründen, Überzeugungen und Motivationen zu fragen. Gemeinsame Projekte, Konzerte oder Fußballturniere schaffen menschliche Begegnung, abseits von theologischen Diskussionen.
Wanderausstellung
Die Ev.-luth. Landeskirche Hannovers initiierte in den 2000er Jahren das Ausstellungsprojekt „Gesichter des Islam – Begegnung mit muslimischen Frauen und Männern“. Statt länger übereinander zu reden, sollten Muslime und Christen, die als Nachbarn im Stadtteil oder in ihrem Ort leben, Gelegenheiten bekommen, miteinander zu reden: Was bedeutet dir dein Glaube? Welche Feste feierst du? Welche Rolle spielt dein Glaube im Alltag? Warum trägst du ein Kopftuch?
Die Wanderausstellung war während der Laufzeit von drei Jahren zu Gast in 30 Orten, sowohl in großen Städten als auch im ländlichen Raum Niedersachsens. Ein Trägerkreis hatte jeweils vor Ort die Aufgabe eine muslimische Frau zu portraitieren und ein Begleitprogramm während der vierwöchigen Ausstellung zu organisieren. Jede Kirchengemeinde, in der die Ausstellung zu Gast war, hatte somit die Chance, die jeweils eigenen Möglichkeiten vor Ort zu nutzen und die lokalen Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Bestehende Kontakte zur muslimischen Gemeinde konnten vertieft oder mussten manches Mal völlig neu initiiert werden.
Die Begegnung mit den Musliminnen und Muslimen vor Ort erweiterte auf der einen Seite die Kenntnisse über den Islam. Sie regte die christlichen Gesprächspartnerinnen und -partner auf der anderen Seite jedoch ebenso dazu an, sich im eigenen Glauben zu verorten. Wer den Anderen oder die Andere im Interview nach dessen oder ihrer religiösen Überzeugungen und Verankerung im Alltag fragt, war gleichzeitig herausgefordert, die für ihn oder für sie geltenden eigenen Antworten zu finden.
Die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher konnten die Erkenntnis mit nach Hause nehmen: Es gibt nicht „den Islam“. Es ist immer der einzelne Mensch, der sich an den Grundlagen, Werten und Normen der Religion orientiert und sie nach ihren eigenen Überzeugungen und kulturellen Erfahrungen lebt. So erfuhr man in den Interviews von einer jungen Frau, die gegen den Willen ihrer Eltern ein Kopftuch tragen wollte oder von einer Mutter, die ihrem Kind erlaubt, im Kindergarten Schweinefleisch zu essen. Gerade die Vielfalt der Frauen machte die Ausstellung interessant: Frauen, deren Herkunftsland die Türkei, Afghanistan oder der Libanon waren; Kopftuch tragende und nicht Kopftuch tragende Frauen; junge Studentinnen oder ältere Frauen. Ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm bereicherte die Ausstellungszeit. Die Vielfalt von theologischen Vorträgen, Musikveranstaltungen, Schulprojekten, Kabarett und anderem garantierte, dass verschiedene Zielgruppen erreicht wurden.
Theaterprojekt für Jugendliche
Das Theaterstück „Die göttliche Odette“ richtete sich an Jugendliche der 9. und 10. Klassen. Im Auftrag des Haus kirchlicher Dienste der hannoverschen Landeskirche brachte der Autor Rolf Kemnitzer ein Beziehungsdrama auf die Bühne, das sich an „Romeo und Julia“ anlehnt: Jamal ist arabischer Herkunft und Muslim, sein Glaube hat für ihn eine hohe Anziehungskraft. Die christlich erzogene Odette verliebt sich ihn. Eine weitere Rolle spielt Gülay, die Verlobte von Jamal. Sie ist türkischer Herkunft und wiederum die beste Freundin von Odette. Diese Verquickung berücksichtigt neben der religiösen Zugehörigkeit auch noch die Ebene der verschiedenen ethnischen Herkunft, und so holte diese lebensnahe Dreiecksbeziehung die Schülerinnen und Schüler direkt in ihrem Alltag ab. In der Vor- und Nachbereitung der Theateraufführung, die von professionellen Schauspielern dargeboten wurde, begaben sich die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer auf die Suche nach ihrer eigenen religiösen Identität, ihren Werten und Normen.
Bildende Kunst
Besondere Wirkung entfalten auch Projekte in der bildenden Kunst und Konzerte. Zwei Künstler aus Burscheid haben das Projekt „Engel der Kulturen“ ins Leben gerufen. In einem Kreis werden die Symbole der drei abrahamischen Religionen – der Stern, das Kreuz und der Halbmond – so geschickt miteinander in Beziehung gesetzt, dass sich die Kontur eines Engels erkennen lässt. Die „soziale Skulptur“ kann von einer Gruppe als ein geschmiedetes Rad mit ca. 1,50 m Durchmesser über die Straßen gerollt werden und z.B. auf einem Weg zwischen Synagoge, Kirche und Moschee die Verbundenheit der drei Religionen zum Ausdruck bringen. An den Stationen kann das Rad auf den Boden gelegt werden und als Form für eine Sandintarsie dienen. Als dauerhaftes Bodendenkmal kann auch eine Stahlintarsie wird an einem Ort in der Stadt verlegt werden, aus einem gesamten Block wird vor Ort bereits für eine weitere Stadt ein Exemplar geschnitten, so dass ein Weiterreichungsprozess und eine weitere Verbindung zustande kommen. Insbesondere sind Schulen eingeladen, sich an diesem interreligiösen Projekt zu beteiligen. Die Form des Engels ist auch als Kettenanhänger erhältlich. Die kreisförmige Anordnung soll deutlich machen, dass keine Gruppe herausgelöst werden kann, ohne dass erkennbar alle anderen mit beschädigt werden. Die Botschaft soll sein, dass alle Menschen – egal welchen Glaubens – gemeinsam in einer Welt leben und miteinander verbunden sind.
Abrahamkonzerte
Musik verbindet die Menschen. Das gemeinsame Hörerlebnis baut eine „Klangbrücke zwischen Kulturen“ und stellt die Freude an der Musik in den Mittelpunkt der Begegnung. Das Ensemble Avram – eine Sängerin und mehrere Musiker – schreibt auf seiner Internetseite „Virtuos verbindet Avram Weltliteratur und Poesie aus Orient und Okzident zu einem einzigartigen Klangerlebnis und einer eindrücklichen Friedensbotschaft.“ Dazu zählen unter anderem Stücke von Hildegard von Bingen, Djelaleddin Rumi, Johann Sebastian Bach oder Yunus Emre, die in „Abrahamkonzerten“ unter Verwendung von westlichen und orientalischen Instrumenten neu arrangiert vorgetragen werden.
Sportliche Ereignisse
In manchen Orten hat man die generationen- und kulturübergreifende Begeisterung für den Sport entdeckt. Es werden Fußballturniere oder Sternläufe organisiert. Unter der Überschrift „Anstoß zum Dialog“ spielen Pfarrer gegen Imame, Jugendgruppen aus muslimischen und christlichen Gemeinden spielen mit- und gegeneinander. Frei nach dem Motto „sich gemeinsam auf den Weg machen“ können bei einem gemeinsamen „Sternlauf der Religionen“ verschiedene Formen der Fortbewegung angeboten werden: Laufen, Wandern, Inlineskaten, Radfahren, mit dem Rollstuhl usw. Ein Rahmenprogramm mit Beiträgen von Gospelchor, türkischen Tanzgruppen u.a. und Speisen aus verschiedenen kulturellen Küchen kann die Vielfalt aufzeigen und die Basis bieten für die Begegnung von Menschen verschiedener Herkunft. Ein solches interkulturelles Fest kann mit einer multireligiösen Feier seinen Abschluss finden.
Erfahrungen und Empfehlungen
Dialogprojekte im kulturellen oder sportlichen Bereich können durch die hohe Attraktivität eine besondere Zeit im (Schul-)Alltag sein. Gerade auch, weil sie sich durch eine hohe Arbeitsintensität auszeichnen. Um ein Strohfeuer zu vermeiden und die christlich-muslimische Begegnung zu einer nachhaltigen Aufgabe werden zu lassen, sollte vor Ort ein Trägerkreis gebildet werden, in dem sich die Zuständigkeiten auf mehrere Schultern verteilen. Dieser sollte die Beziehung zwischen Muslimen und Christen vor Ort aufmerksam begleiten und sich für weitere Begegnungen, öffentliche Auftritte oder aktuelle Stellungnahmen verantwortlich fühlen. Das notwendige Vertrauen für wirkliche Begegnung entsteht erst durch verlässliche Kontinuität und nicht durch das einmalige Aufflackern eines Dialogevents. Eingeworbene Drittmittel ermöglichen die Finanzierung einer Honorarkraft, die für die Organisation und Durchführung zuständig, z.B. für die Erstellung von Informations- und Begleitmaterialien oder Pressearbeit und Internetauftritt. Projekte, die mehrere Orte einer größeren Region erreichen sollen, sollten so gestaltet sein, dass sie flexibel auf die lokale Situation anwendbar sind. Für Schulprojekte ist es hilfreich, wenn ein Arbeitsheft Hintergrundwissen anbietet, das in verschiedenen Unterrichtsfächern zum Einsatz kommen könnte.
Zum Weiterlesen
Dahling-Sander, Christoph / Janocha, Barbara, Vielfalt, Toleranz, Begegnung. Christen und Muslime zeigen Profil (Schriftenreihe der Georges-Anawati-Stiftung 4), Düsseldorf 2008.
Mathias Enard, Kompass, Berlin 2015.
Franke, Kornelia, Frauensport im Islam (Bibliotheca Academica – Reihe Orientalistik, Band 26), Würzburg 2016.
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