Gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen
Bis zum Start der Online-Version des Handbuchs 2023 sind seit der Erarbeitung der Beiträge für die gedruckte Auflage etwa zehn Jahre vergangen – im Feld des christlich-islamischen Dialogs eine lange Zeit, in der sich nicht alles, aber doch vieles verändert und weiterentwickelt hat. Der gesellschaftliche Kontext hat sich weiter säkularisiert, individualisiert und pluralisiert. In den deutschsprachigen Ländern wird die soziale, kulturelle und (gesellschafts-)politische Rolle und Bedeutung von Religion generell neu verhandelt.
Die evangelische und die katholische Kirche als die beiden größten christlichen Glaubensgemeinschaften haben in den letzten zehn Jahren einen starken Mitgliederschwund verzeichnet. Missbrauchsskandale und Richtungskämpfe zwischen traditionell und reformorientierten Gruppen, wachsende Personal- und Geldnöte verschärfen die Situation. Deutsche Besonderheiten im Verhältnis von Kirche und Staat wie der konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, das Kirchensteuersystem oder das kirchliche Arbeitsrecht werden gesellschaftlich und politisch zunehmend diskutiert und in Frage gestellt. Schließlich hat insbesondere die Katholische Kirche durch die Missbrauchsskandale und den Umgang damit einen enormen Ansehens- und Vertrauensverlust erlitten, der auch Auswirkungen auf die anderen Kirchen hat. Der gesellschaftliche Einfluss der Kirchen hat spürbar abgenommen.
Gleichzeitig sind in den letzten Jahren durch vielfältige Flucht- und Migrationsbewegungen viele Christ:innen, die orthodoxen und orientalischen Kirchen angehören, nach Deutschland eingewandert. Diese Christ:innen haben in ihrer Heimat zum Teil eigene, nicht selten auch negative Erfahrungen mit Muslim:innen oder staatlichen Organen in islamischen Ländern gemacht, weshalb sie einem Dialog bisweilen kritisch gegenüberstehen. Dazu kommt ein in Deutschland wachsendes Feld freikirchlicher Bewegungen, die wiederum eigene Perspektiven und Anliegen im Umgang mit Islam und Muslim:innen vertreten. In allen Kirchen und christlichen Gemeinschaften gibt es Christ:innen und Strömungen, die gegenüber den Muslim:innen einen eher missionarischen als dialogorientierten Ansatz verfolgen. Mit dieser noch stärkeren Auffächerung des christlichen Spektrums sind auch die Zugänge zum christlich-islamischen Dialog vielfältiger geworden.
Noch nicht absehbar sind die Folgen der Legitimierung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine durch die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche, namentlich durch Patriarch Kyrill, auf die Orthodoxie und das Christentum insgesamt hat. Die Abkehr von Verständigung und Dialog von so einflussreicher Stelle beschädigt alle Bemühungen, die friedensstiftende Kraft des Christentums und der Religionen insgesamt zu stärken.
Veränderungen auf muslimischer Seite
Muslim:innen bilden heute in den deutschsprachigen Ländern eine signifikante Gruppe mit festen religiösen Strukturen, auch wenn viele von ihnen nicht formell (Mitgliedschaft) organisiert sind. Der Islam ist öffentlich sichtbarer geworden: durch repräsentative Moscheebauten, kopftuchtragende muslimische Frauen in neuen beruflichen und gesellschaftlichen Feldern, islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, öffentlich gefeiertes Fastenbrechen im Ramadan und stärkere Präsenz von Muslim:innen in den Medien. Die Generationen, die hier geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind, sind selbstbewusster und sprachfähiger als ihre Eltern oder Großeltern und fordern mehr Anerkennung, Gleichberechtigung und Teilhabe ein. Eben diese deutlichere Sichtbarkeit und das stärkere Selbstbewusstsein der Muslim:innen ist einerseits ein klares Indiz für eine Normalisierung und Integration, führt andererseits aber bei Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung noch immer zu Verunsicherung, Ängsten und Abwehrreaktionen. Nicht selten geht es bei Konflikten wie dem Kopftuchstreit und bei Moscheebaukonflikten um notwendige Aushandlungs- und Anerkennungsprozesse in einer religiös und kulturell pluralen Gesellschaft. Sie sind damit eigentlich Zeichen einer gelungenen oder im Prozess befindlichen Integration im Sinne der Zugehörigkeit und Teilhabe („Integrationsparadox“ nach Aladin El-Mafaalani).
Mit Blick auf die muslimische Seite fordern mehrere sich überlagernde Ereignisse und Diskurse der letzten Jahre den Dialog heraus, erschweren und belasten ihn zuweilen, machen ihn aber umso notwendiger und vielleicht auch fruchtbarer: Die Fluchtmigration vor allem der Jahre 2015/16 aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland und die damit verbundene sichtbare Veränderung des Islam hierzulande, die daraus resultierende große Integrationsaufgabe sowie die gesellschaftspolitische Integrations- und Sicherheitsdebatte, die sich an Schlagwörtern wie „Leitkultur“ oder an Fragen wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ immer wieder entzündet und abarbeitet. Der Islam in Deutschland ist durch die jüngste Migrationsgeschichte ethnisch und kulturell vielfältiger geworden. Angesichts der Zuwanderung aus dem arabischen Raum bilden die türkischstämmigen Muslim:innen heute nur noch knapp die Hälfte der muslimischen Community. Nicht nur die Moscheeverbände und hier sozialisierten Menschen muslimischen Glaubens stehen durch die Geflüchteten vor einer neuen Situation, sondern auch der christlich-muslimische Dialog und die Gesellschaft insgesamt.
Der Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 und die damit verbundenen politischen Veränderungen dort hatten spürbare Auswirkungen auf die Dialogsituation hierzulande, da bestimmte türkisch geprägte islamische Verbände nicht mehr miteinander sprechen und kooperieren wollten und wollen. Die türkischen Verbände DITIB und IGMG sind sowohl kirchlicher- wie staatlicherseits aufgrund ihrer sehr engen Anbindung an den türkischen Staat und dessen aktuelle Politik deutlich in die Kritik gekommen, diese wiederum beklagen mangelnde rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung.
Wie das Christentum, so ist auch der Islam in Deutschland, Österreich, Schweiz kein einheitlicher Block, sondern intern vielfältig. Die Frage, wer für die Muslim:innen verbindlich sprechen kann, wer die religiöse Deutungshoheit hat, ist in den letzten Jahren auf jeden Fall komplexer geworden. Das muss kein Nachteil sein, weil es die faktische Pluralität des Islam deutlich macht. Die entscheidende Frage ist, wie man mit dieser Pluralität nach innen und nach außen hin umgeht. Interessenkonflikte sind normal, aber sollten weder religiös noch politisch aufgeladen und gedeutet werden. In vielen Fragen verlaufen die Konfliktlinien auch quer durch die jeweiligen Gemeinschaften.
All diese Entwicklungen und Faktoren machen den Dialog nicht einfacher, aber sie machen ihn umso notwendiger. In einer sich pluralisierenden Gesellschaft sind Konflikte der Normalfall, sie können positiv dynamisierend wirken, wenn sie konstruktiv, diskursiv und friedlich bearbeitet werden.
Fortschritte im Dialog und neue Herausforderungen
So lassen sich in den letzten Jahren auch Fortschritte im Dialog verzeichnen: Es kam an vielen Orten und auf vielen Ebenen zu einem Aufbau von verlässlichen Dialogstrukturen, die unabhängig von bestimmten Personen und auch in schwierigen Situationen tragen. Diese festeren Strukturen wiederum haben vielfach dazu geführt, dass persönliche Beziehungen gewachsen sind oder gestärkt wurden. War der Dialog in den ersten Jahrzehnten von der Anwaltschaft der Kirchen für die muslimischen Migrant:innen geprägt, so gibt es heute vielfach eine Partnerschaft auf Augenhöhe trotz noch vieler bestehender Asymmetrien numerischer, rechtlicher, finanzieller, personeller Natur. Die Sprach- und Konfliktfähigkeit hat auf beiden Seiten zugenommen, was Rückschritte oder Stagnation in einzelnen Feldern nicht ausschließt. Die Verzahnung des interreligiösen Dialogs mit kommunalen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren (Stiftungen, Gewerkschaften, Parteien etc.) wurde stärker. Der theologisch-wissenschaftliche Dialog hat durch die Etablierung einer universitären islamischen Theologie an mehreren Standorten ein völlig neues Niveau erreicht. Vielerorts kam es zu einer Ausweitung des bilateralen Dialogs zum „Trialog“ (Christen-Muslime-Juden) und zum multilateralen Dialog (mit Buddhisten, Baha‘i etc.) etwa bei den zahlreichen örtlichen Räten der Religionen und bei Religions for Peace Deutschland.
Die Vermischung der Religion mit politischen Fragen führt nicht selten zu Konflikten, andererseits findet religiöses Leben und damit auch interreligiöser Dialog nie im luftleeren Raum statt. Es muss deshalb darum gehen, politische Fragen nicht mit religiösen Ansprüchen aufzuladen und umgekehrt. Weltweit besteht die große fundamentalistische Versuchung darin, Religion für (nationalistische) Identitätspolitik zu instrumentalisieren. Der interreligiöse Dialog vor Ort kann nicht die Probleme in anderen Teilen der Welt lösen, weshalb es eine Kontextualisierung und Lokalisierung des Dialogs braucht. Dennoch kann die internationale Vernetzung von Politik, Wirtschaft und letztlich auch der Religionen nicht ausgeblendet werden, sodass es auch der globalen interreligiösen Vernetzung bedarf, die auf die lokale Ebene des Dialogs einwirkt oder einwirken sollte – und umgekehrt. Der christlich-islamische und der interreligiöse Dialog überhaupt müssen schließlich zu einer Querschnittsaufgabe in religiösen Bildungsprozessen, Gemeinden und Institutionen werden. Das Online-Handbuch will dafür die nötigen Grundlagen und hilfreiche Anregungen aus der reflektierten Praxis und für die Praxis bieten.
Volker Meißner, Martin Affolderbach, Naime Çakir-Matter,
Hamideh Mohagheghi, Andreas Renz, Katrin Visse, Georg Wenz